Der Stern im Radio
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Der Stern im Radio

»Gleich halb drei, und jetzt unsere Lesung, wie immer in diesen seltsamen Zeiten«, hat der Sprecher gesagt. Manchmal schalte ich das Radio ein, um zu hören, an welcher Stelle sich der »Stern« gerade befindet. Jedes Mal empfinde ich dabei einen Moment von Unsicherheit und Anspannung, dann die Erleichterung: »Gleich halb drei, und jetzt …« Dass der Roman im Radio läuft, dass ich also hier in meinem Zimmer sitzen und ihn hören kann, ist immer noch ein Wunder. Neugier ist auch dabei: Mit welchen Worten wird die Lesung diesmal eingeleitet? In der Regel ist das mehr als eine Ansage, eher eine Moderation: Was bisher geschah und was, liebe Hörer, steht uns diesmal wohl bevor? So ungefähr. Großes Kino.

»Am Morgen bitte beim Pförtner melden, dann werden Sie abgeholt«: Acht Tage im labyrinthischen Haus des Rundfunks am Funkturm, Masurenallee, von 9.30 Uhr bis 18 Uhr – den Roman »Stern 111« einzulesen, war eine gute Arbeit. 528 Seiten in acht Tagen sind knapp 70 Seiten pro Tag, für einen Anfänger wie mich kein schlechter Schnitt (wie man so sagt). Studio P2 im Saal 2 – ein riesiger uralter Aufnahmeraum, eigentlich eine Halle, mit hohen Fenstern zum Hof und Wendeltreppe und Schalttafeln mit Reihen von leuchtenden Lämpchen und Steckern an den holzvertäfelten Wänden. Hinter mir in der Ecke steht ein Flügel, auf dem mein Mantel liegt, meine Mütze, mein Rucksack und meine Frühstücksbrote.

Es ist Januar, und die Tage sind dunkel, das Studio ist dunkel. Wir schalten das Licht nicht ein, weil es schöner ist, nur mit der Leselampe an dem kleinen Aufnahmetisch in der Mitte des Saals zu sitzen, nur die Lampe und das Papier, rechts der Stapel mit dem ungelesenen Text, links der gelesene Text. Außerdem die Medikamente, das Wasser und der Tee mit Honig und frischen Ingwerstücken, den Clarisse für mich gekocht hat – ich bin total erkältet, aber es gibt keine Möglichkeit, die Aufnahme noch weiter zu verschieben.

Clarisse Cossais führt Regie, Martin Scholz ist der Toningenieur – ich hätte es nicht besser treffen können. Clarisse Cossais, geboren in Marseille, seit dem Mauerfall in Berlin, und auch Martin kennt Berlin bereits aus diesen Tagen: Sie sind Experten für die Zeit, die in »Stern 111« verhandelt wird, und wir sprechen darüber, während der Aufnahme und in den Pausen, die nie lang sind, weil wir wissen, dass wir siebzig Seiten schaffen müssen. Längere Diskussionen gibt es nur über Fragen der Aussprache (Balance zwischen »richtiger« und »normaler« Aussprache, zwischen Norm und Gebrauch, »so spricht doch keiner« usw.) – aber auch hier habe ich Glück: Als Französin ist Clarisse Expertin für Akzente und Dialekte, sie hat ein Ohr dafür, sie hat ein Verständnis für den ab und zu von fern hereinwehenden Klang des Ostthüringischen, wenn ich lese.

Es ist Arbeit, aber reines Glück, den eigenen Text auch selbst einzulesen – nicht zuletzt, weil dieser Text das Resultat der eigenen Stimme ist. Das heißt, jeder Satz hunderte Male laut gesprochen werden musste beim Schreiben, um zu hören, ob er stimmt, Klang und Rhythmus genau richtig sind, hunderte Mal ins eigene Ohr gesprochen, denn das Ohr ist das Leitorgan beim Schreiben.

Dabei ist die Lesung des Autors keine Selbstverständlichkeit, jedenfalls für die Hörverlage, die gern auf Schauspieler setzen, möglichst TV-bekannt. Was dabei verlorengeht: die Physiognomie eines Stils, seine akustische Gestalt, die eine Vielgestalt ist. Nicht nur, wer vom Gedicht kommt, wird es wahrscheinlich schwer ertragen, wenn ein anderer den eigenen Text liest, denn selbst wenn er »besser liest« (wie man so sagt, unter artistischen Aspekten), wird alles flacher dabei. Weil er Bedeutungen »herausliest« und sie betont, gern auch überbetont, das heißt, die Vielgestalt des Textes interpretiert, sie damit reduziert und nicht selten verfälscht (schon eine Pause an der falschen Stelle bringt alles zum Einsturz), aber was soll der mehr oder weniger namhafte TV-Schauspieler auch tun, er hat nicht den Körper des Autors, er hat nur sein mehr oder weniger ausgeprägtes Verständnis für den Text, dazu den mehr oder weniger gut bestückten Werkzeugkasten seiner Schauspielerei.

Sicher, es gibt Ausnahmen: zum Beispiel Hanns Zischler (der allerdings selbst nicht nur Schauspieler, sondern auch Schriftsteller ist), Elisabeth Schwarz (wenn sie »Die Wand« von Marlen Haushofer liest), Werner Kreindl (als er den »Radetzkymarsch« las und obwohl er »schauspielerte« dabei, aber genauso wie Joseph Roth es sich gewünscht hätte) und immer: Christian Brückner. Im Verlag parlando von Christian Brückner ist mein erstes Hörbuch erschienen – mit Gedichten (»vor der zeitrechnung«, 2006). Unschlagbar auch Jens Harzer, der das Hörstück zum Roman »Kruso« spricht, in der Regie von Ulrich Gerhardt, dem Altmeister des Hörspiels. Und jetzt also die mutige, heldenhafte Entscheidung des Berliner Audio Verlags im Falle von »Stern 111« den Autor selbst lesen zu lassen und zwar ungekürzt: 18 Stunden und 28 Minuten. Dazu der Rundfunk Berlin Brandenburg (radio kultur), der daraus 45 Folgen produziert – und sendet!

»Es liest Lutz Seiler – höchstpersönlich.« Mit dieser wunderbar altmodischen Wendung beginnt an jedem Tag um 14.30 Uhr und um 23.04 Uhr die Sendung der Lesung, jeweils eine knappe halbe Stunde lang. Das heißt, dass der »Stern« seit Ausbruch der Pandemie und dem Beginn der damit verbundenen »Verbote und Einschränkungen« fast eine Stunde pro Tag akustisch leuchten darf. Sogar über Ostern (O-Stern).

Lutz Seiler, 14. April 2020

Hier geht es zur Stern-Lesung auf RBB Kultur.

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