Mein Schlafanzug

Mein Schlafanzug

Das Geräusch ist eine Art an- und abschwellendes Rauschen, stetig und leise. Offensichtlich ist die Gasheizung, die gegen 23 Uhr automatisch herunterfährt, noch einmal angesprungen – seit Jahren gibt es Probleme mit der Heizung. Langsam löse ich mich aus meiner Starre am Tisch, um eine Hand auf den Heizkörper neben dem Tisch zu legen, wie zur Beruhigung. Der Tisch ist sehr groß und ein gutes Stück (wie man so sagt), angeblich aus dem Holz stillgelegter Schiffskutter gefertigt. Die Bewegung meiner Hand gelingt, ist aber viel zu fahrig, fast hektisch, und hat zur Folge, dass das Rauschen (Meeresrauschen) jetzt ungehindert in mich eindringen kann.

Ich denke: Vielleicht ist es gerade das: Dass wir in unserer Müdigkeit und Erschöpfung, unserer Eitelkeit und Arroganz, irgendwann nicht mehr in der Lage sind, das uns zugedachte Unglück, jenes Unglück, das schon lange mit uns liebäugelt, draußen vor der Tür zu halten. Es steht da draußen, noch ganz roh und nackt und zu allem bereit. Die Kette klirrt, das Unglück schnappt nach Luft, und plötzlich lockert sich der Pflock.

Der Anblick meines Zimmers: trauriges Erstaunen. All die schönen Dinge. Und wie gemütlich, denke ich. Als wäre das die Stube eines anderen Menschen. Es gibt Bücher und Bilder darin. Ein größeres Bild zeigt ein junges Wildschwein auf der Flucht, darunter hängt ein kleines Plakat; es zeigt die Fotografie einer Schule in der französischen Provinz, vor der eine schwarze Katze vorbeihuscht; die Katze ist unscharf. Daneben die Tuschezeichnung eines Kolibris. Im Rahmen der Kolibri-Zeichnung stecken ein Foto meines Sohnes, eine Tischkarte der Stockholmer Universität mit meinem Namen (ich habe einen Frack getragen bei diesem Essen, das war Pflicht) und eine blau gestrichelte Straßenbahnfahrkarte aus Halle (Saale) von 1987, die ich vor zwei drei Jahren als Lesezeichen wiedergefunden habe in Dostojewskis »Dämonen« Band II, die schöne Ausgabe des Aufbau-Verlags mit dem silbergrauen Umschlag.

Als ich Abschied denke (Warum?), setzt das Bedauern ein, mit einer Heftigkeit, die mich augenblicklich zurückkatapultiert – das ist doch mein Zimmer! Meine Bilder! Und der Kolibri ist keine Zeichnung, sondern eine Graphik! Das Wildschwein: Acryl auf Packpapier, der Maler heißt Uhlig. Das Plakat trägt eine Aufschrift: »La Douce-Amère, das Bitter-Süsse«. Darunter ein Zitat, das ich auswendig kenne: »Als ich noch sehr klein war, fand ich, dass der Name Balzac wundervoll klang, und mit vier oder fünf Jahren hatte ich beschlossen, dass ich zwei Kinder mit den Namen Balzac und Myxomatose haben würde.« Das Zitat stammt von Odile Marcel, »Eine französische Erziehung«. Ich möchte das laut sagen, um das Rauschen zu übertönen und zum Beweis, dass ich noch vorhanden bin und nicht auf der anderen Seite, bin aber zu müde dafür.

Aus irgendeinem Urgrund taucht die alte Angst auf, unvorbereitet zu sein. Es ist nicht nur die Angst, im Ernstfall zu versagen, es ist auch etwas anderes dabei, und jetzt sehe ich es: »Du hast keinen Schlafanzug? Aha. Dann musst du das hier nehmen.« Es handelt sich um das Hemdchen, das hinten offen steht, es gibt nicht mehr als eine Schleife im Nacken, die sich löst; Rücken und Hinterteil sind jetzt entblößt, während das Kind mit nackten Füßen über den kalten Korridor stakt, voller Scham.

,Wo ist mein Schlafanzug?‘, denke ich. Und: ,Du hast ja gar keinen.‘ Oder doch? Ich trage keine Schlafanzüge, aber einen hab ich doch aufbewahrt, insgeheim, für den Ernstfall, oder wie soll man es sagen? In ängstlicher, kaum eingestandener, beinah peinlich empfundener Voraussicht, habe ich einen Schlafanzug – als handele es sich um etwas Verbotenes. Dazu der Aberglaube, man gebe dem zukünftigen Unglück schon jetzt (in guten Zeiten) einen eigenen festen Platz, als wohnte das Unglück fortan (und mit ihm der eigene Tod vielleicht) in einem abgelegenen, niemals aufgesuchten Fach meines Kleiderschranks. Mein Schlafanzug: Er war ein Geschenk meiner Eltern, schon vor Jahren, Weihnachten oder Geburtstag, ein Schlafanzug von der Art, wie mein Vater sie trägt, beige und braun.

Plötzlich muss ich an Nikolaus Lenau denken, das Gedicht mit der alten Wäscherin und ihrem Totenhemd, das am Ende sauber gebügelt im Schrank liegt – wie hieß das nur? Ich steh auf, um das Buch zu suchen und bin sofort wieder zu Haus, im Heimathafen der Gedichte.

PS: Ich hatte mich getäuscht. Das Gedicht vom Totenhemd im Schrank war nicht von Lenau, sondern von Chamisso: »Die alte Waschfrau«, 1833.


Bild links:
Hochstand 2020

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