Moosbrand

Moosbrand

Zwei Dutzend Leute waren es, die dem beginnenden Winter trotzten, um dabei zu sein an jenem 9. Dezember 1995, an dem, ein Vierteljahrhundert nach der Vertreibung Peter Huchels in den Westen, die Literatur mit Hilfe von Ölradiatoren und Kerzenbeleuchtung zurückkehrte ins Haus am Hubertusweg in Wilhelmshorst. Es war die letzte Wilhelmshorster Lesung unserer bis dahin selbstverlegten Zeitschrift „moosbrand“, die diesmal nicht in unserer Wohnung stattfand, sondern im Haus Peter Huchels, das uns Monica Huchel zur Verfügung stellte, dazu ein Brief mit ihrem Zuspruch und Segen: „Jedenfalls freue ich mich sehr, daß es Ihren Kreis jüngerer Autoren gibt …“ Es war die allererste Lesung im späteren Peter-Huchel-Haus, zu diesem Zeitpunkt eine kalte Ruine mit geplatzten Heizungsrohren und feuchten Wänden. Zehn Autorinnen und Autoren lasen an diesem Abend, unter ihnen Ulrich Zieger, Elke Erb, Andreas Koziol, Nadja Gogolin, Thomas Kunst, Jörg Schieke, Annett Gröschner und Thomas Böhme. An den Wänden ringsum hatte der Maler Dirk Uhlig eine Ausstellung seiner Tierbilder aus der Reihe „Himmlische Kreaturen“ improvisiert. Thomas Kunst las aus dem damals noch weitgehend unbekannten Poem „Alphabet“ von Inger Christensen, Elke Erb den Zaubertext „Selbstgespräche sind nur Meeresrauschen“, Nadja Gogolin Anagramme, für die ihr Verse von „moosbrand“-Autoren als Vorlage dienten und Ulrich Zieger das Gedicht „aus den briefen“, dessen Schlussvers mir bis heute in den Ohren tönt, wenn ich an diesen Abend denke: „ihr habt keinen mut mehr jetzt gebt euer blut her.“

Auszug aus dem Essay „Die Moosbrand-Geschichte“, erschienen in Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, Heft 2, 2023.


Foto:
Sitzend: Elke Erb, Ulrich Zieger, Nadja Gogolin; stehend: Klaus Michael

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