Diese „Dialektik“, die wir – nach Szondis Rat – nicht erklären, sondern, im Hinblick auf Celans Werk und Erfahrung, nur akzeptieren und anerkennen sollten, kommt unserer Ratlosigkeit angesichts der Kriege unserer Gegenwart sehr nah. Dabei war Szondi kein Nihilist. Klarsichtig und geleitet von den Erfahrungen seiner eigenen Herkunft gab er nicht auf (vorerst nicht, müssen wir sagen), sich für seine Freunde einzusetzen. Klaus Reichert, ein Schüler und enger Freund Peter Szondis, beschreibt die Situation, in die Szondi im Winter des Jahre 1960/61 geriet:
„Was ihn umtrieb, war der Plagiatsvorwurf gegen Celan von Claire Goll. Er versuchte, die Berliner Kollegen zu mobilisieren, aber die winkten ab: Celan nehme die Geschichte übertrieben ernst, die sich ohnehin im Sand verlaufen werde. Günter Grass, wieder in Berlin, bis vor kurzem ein Freund Celans in Paris, meinte, Celan sei hysterisch. In allen Debatten, die ich mitgehört habe, ging es um den überempfindlichen Celan … Szondi stand auf verlorenem Posten, und er sah, wie Celan, dass es unterschwellig noch um anderes ging als um einen Plagiatsvorwurf, vorsichtig gesagt: um die Taktlosigkeit der Gefühle einem Verfolgten gegenüber. In der Rückschau wird mir deutlich, wie allein gelassen Szondi sich gefühlt haben muss. Aber er klagte nie an, richtete nicht, er schwieg.“
Der bekannte Anglist, Übersetzer und Dichter Klaus Reichert, Herausgeber der Werke von James Joyce im Suhrkamp Verlag, der hier, ohne es auszusprechen, an eine sublime Form des Antisemitismus erinnert, kommt übrigens selbst vor im Text. Szondi erwähnt in „Eden“ einen Freund, dem Celan die Urschrift des betreffenden „Wintergedichts“ am Tag vor seiner Abreise aus Berlin am 29. Dezember 1967 zugeschickt hätte. Vor ein paar Tagen habe ich Klaus Reichert, der in Frankfurt lebt, gefragt, ob er dieser Freund gewesen sei. Die Antwort kam sofort:
„Mit dem Freund bin ich gemeint, ja. Celan schickte mir die Urschrift aus Berlin. Bei seinem Flug von Paris nach Berlin mußte er in Frankfurt umsteigen, und da haben wir uns gesehen. Ich brachte ihm an den Flughafen als Weihnachtsgeschenk die Paracelsus-Ausgabe aus der Dom-Bibliothek des Insel Verlags mit, von der ich wußte, daß er sie haben wollte. Außerdem eine Tüte Bethmännchen, ein Frankfurter Marzipangebäck, das Moni für ihn zu Weihnachten gebacken hatte. Vielleicht war die Handschrift eine Gegengabe für Paracelsus.“
Paracelsus plus Bethmännchen gegen frisches Gedicht – war das Wort vom literarischen Austausch jemals lebendig, dann an diesem Abend des 30. Dezember 1967 …
(Auszug aus der Antrittsvorlesung zur Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Peter Szondi-Institut der FU Berlin am 15. November 2023.)
Bild links:
Alter Güterbahnhof Gera