Eden

Eden

… und so war es kein Zufall, dass ich in den letzten Tagen noch einmal die Schriften Peter Szondis las, darunter auch jenen Text aus den Celan-Studien, der mit dem Titel „Eden“ überschrieben ist, in dem es um ein ursprünglich Peter Huchel zugedachtes Gedicht geht.

Paul Celan hatte das Gedicht dem im Jahr 1967 politisch stigmatisierten und weitgehend isolierten Dichter Peter Huchel gewidmet, der damals nicht in Ostberlin, wie es der Kommentar in der neuen Celan-Ausgabe erläutert, sondern schon lange in Wilhelmshorst in der Mittelmark zu Hause war, in jenem Haus am Waldrand, in dem ich heute diese Zeilen schreibe. Schon wenige Jahre nach Kriegsende war Huchel in die märkische Landschaft seiner Kindheit zurückgekehrt. Die Bildwelt der Seen und Flüsse dieser Gegend sind Ausgangspunkt und Quellgrund seines dichterischen Werks – „Havelnacht“ und „Sternenreuse“ heißen die bekanntesten Gedichte. In doppelter Hinsicht ist es also kein Zufall, dass die Havel auch durch „Eden“ fließt und Peter Szondi in seiner historisch genauen Lesart des ursprünglich mit dem Titel „Wintergedicht“ überschriebenen Widmungstextes die Berlin-Erfahrung Paul Celans mit der Situation Peter Huchels in der Mittelmark verbindet.

Peter Szondis an den Werken Adornos und Benjamins geschulte Maxime, zuerst „von dem im Werk zugänglichen Geschichtlichen zu sprechen“ (Christoph König) und dabei der besonderen Aussagekraft des Details zu vertrauen, wird in „Eden“ vorgeführt. Wir erfahren, dass in Celans Gedicht zugleich vom Hotel „Eden“ die Rede ist, in dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die letzten Stunden vor ihrer Ermordung verbringen mussten. Indem Szondi die Doppelbedeutung von „Eden“ als Vorhölle und Paradies aufzeigt, legt er die innere Dialektik frei, die Celans Schreiben, genauer gesagt, seinen Blick auf die Welt nach Kriegsende strukturiert: „Ihm (Celan, L.S.) war die Erfahrung vertraut, dass die moralische Welt weder in Gut und Böse geschieden ist noch aus lauter Übergängen zwischen ihnen besteht, sondern dass das Gute zugleich böse ist und das Böse, wie auch immer, zugleich sein Gutes hat.“
Diese „Dialektik“, die wir – nach Szondis Rat – nicht erklären, sondern, im Hinblick auf Celans Werk und Erfahrung, nur akzeptieren und anerkennen sollten, kommt unserer Ratlosigkeit angesichts der Kriege unserer Gegenwart sehr nah. Dabei war Szondi kein Nihilist. Klarsichtig und geleitet von den Erfahrungen seiner eigenen Herkunft gab er nicht auf (vorerst nicht, müssen wir sagen), sich für seine Freunde einzusetzen. Klaus Reichert, ein Schüler und enger Freund Peter Szondis, beschreibt die Situation, in die Szondi im Winter des Jahre 1960/61 geriet:

„Was ihn umtrieb, war der Plagiatsvorwurf gegen Celan von Claire Goll. Er versuchte, die Berliner Kollegen zu mobilisieren, aber die winkten ab: Celan nehme die Geschichte übertrieben ernst, die sich ohnehin im Sand verlaufen werde. Günter Grass, wieder in Berlin, bis vor kurzem ein Freund Celans in Paris, meinte, Celan sei hysterisch. In allen Debatten, die ich mitgehört habe, ging es um den überempfindlichen Celan … Szondi stand auf verlorenem Posten, und er sah, wie Celan, dass es unterschwellig noch um anderes ging als um einen Plagiatsvorwurf, vorsichtig gesagt: um die Taktlosigkeit der Gefühle einem Verfolgten gegenüber. In der Rückschau wird mir deutlich, wie allein gelassen Szondi sich gefühlt haben muss. Aber er klagte nie an, richtete nicht, er schwieg.“
Der bekannte Anglist, Übersetzer und Dichter Klaus Reichert, Herausgeber der Werke von James Joyce im Suhrkamp Verlag, der hier, ohne es auszusprechen, an eine sublime Form des Antisemitismus erinnert, kommt übrigens selbst vor im Text. Szondi erwähnt in „Eden“ einen Freund, dem Celan die Urschrift des betreffenden „Wintergedichts“ am Tag vor seiner Abreise aus Berlin am 29. Dezember 1967 zugeschickt hätte. Vor ein paar Tagen habe ich Klaus Reichert, der in Frankfurt lebt, gefragt, ob er dieser Freund gewesen sei. Die Antwort kam sofort:

„Mit dem Freund bin ich gemeint, ja. Celan schickte mir die Urschrift aus Berlin. Bei seinem Flug von Paris nach Berlin mußte er in Frankfurt umsteigen, und da haben wir uns gesehen. Ich brachte ihm an den Flughafen als Weihnachtsgeschenk die Paracelsus-Ausgabe aus der Dom-Bibliothek des Insel Verlags mit, von der ich wußte, daß er sie haben wollte. Außerdem eine Tüte Bethmännchen, ein Frankfurter Marzipangebäck, das Moni für ihn zu Weihnachten gebacken hatte. Vielleicht war die Handschrift eine Gegengabe für Paracelsus.“

Paracelsus plus Bethmännchen gegen frisches Gedicht – war das Wort vom literarischen Austausch jemals lebendig, dann an diesem Abend des 30. Dezember 1967 …

(Auszug aus der Antrittsvorlesung zur Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Peter Szondi-Institut der FU Berlin am 15. November 2023.)


Bild links:
Alter Güterbahnhof Gera

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