HME

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Hans Magnus Enzensberger: Das von ihm eingerichtete „Museum der modernen Poesie“ ist noch immer ein Handbuch für die Schreibwerkstatt – da steht es im Regal, unzählige Male aufgeschlagen, viele der Autoren habe ich zuerst dort gelesen, William Carlos Williams, Rafael Alberti, Octavio Paz. Nicht weniger wichtig waren seine Essays zur Unbedingtheit des Gedichts. Die übliche Klage über die mangelnde Wertschätzung der Poesie ließ er nicht gelten und sah gerade in der fehlenden kommerziellen Verwertbarkeit das utopische, anarchische Potential des Gedichts, sein Alleinstellungsmerkmal. Fehlende Gewinnerwartung als ein Moment der absoluten Freiheit, die jeder der Gedichte schrieb, geschenkt bekam.

Der Band „Erinnerung an die Zukunft. Poesie und Poetik“ war auch im Osten erschienen, 1988 bei Reclam in Leipzig, ein kleines Taschenbuch aus grauem Papier, so schlecht, dass einem die Augen schmerzten und sich ein Löschblattgefühl auf der Zunge einstellte beim Lesen – aber der Text: voller Anstreichungen, ein Fenster zur Welt. Außerdem die gute Nachricht von der Enzensbergerschen Konstante, die besagt, dass in jeder Sprachgemeinschaft ohnehin nicht mehr als 1354 Leserinnen und Leser anspruchsvoller Lyrik existieren – eine seltene Spezies, ein Geheimbund, eine Kohorte, der man schon deshalb gern angehören wollte, weil er, Hans Magnus Enzensberger, ihr Sprecher war. (Wer könnte es jetzt sein?)

Gesehen habe ich Enzensberger erstmals in einem Film über Peter Huchel, wo er behauptet, die Schriften Adornos erst über die Lektüre früher Ausgaben von Huchels Ostberliner Zeitschrift „Sinn und Form“ kennengelernt zu haben – er sagt das ganz sanft, dazu sein spöttisches Lächeln, dankbar für die Gelegenheit, den Westen schlecht aussehen zu lassen. Einmal, bei der Feier zum Umzug des Suhrkamp Verlags von Frankfurt nach Berlin, haben wir länger miteinander gesprochen – über Berlin im Jahr nach dem Mauerfall, über seine Zeit in Skandinavien und den „Schwedischen Herbst“, der seinen Band „Ach Europa!“ eröffnet – ein prophetischer Text, blickt man heute auf Stockholm, wo ich gerade sitze, während ich diese Sätze schreibe, und den „Herbst“ noch einmal lese: „Ich fing an, überall das Verdrängte und seine Wiederkehr zu wittern, den modrigen Geruch einer allgegenwärtigen, sanften, unerbittlichen Pädagogik.“

Mein Lieblingsbuch von HME: „Der kurze Sommer der Anarchie“, eine dokumentarische Collage über Leben und Tod des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti, ein faszinierendes Spiel mit der Vielgestalt historischer Wahrheit. Reine Freude für mich, Durruti in meinem letzten Roman noch einmal auftreten zu lassen – als Hommage und Verbeugung vor HME und diesem Werk aus Klugheit und Eleganz.

Dieser Text erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.11.2022

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