Erste Deponenta

Erste Deponenta

Es geschah zu einer Zeit, als meine Eltern zu verstehen begannen, dass ich weder im Bauwesen noch an irgendeiner Universität etwas werden würde. Mein erster Gedichtband war schon vor Jahren erschienen, in einem kleinen Berliner Verlag, als ich mir ein Herz fasste und meine Eltern dazu einlud, doch einmal eine meiner Lesungen zu besuchen. Eine Veranstaltung in Erfurt schien ausgesprochen geeignet dafür, nicht nur aufgrund ihrer Nähe zum Heimatort Gera, auch sollte mein Auftritt Teil eines mehrtägigen Festivals sein, bei dem ich gemeinsam mit dem berühmten und von mir verehrten Schriftsteller Wolfgang Hilbig lesen würde. Nicht dass es mir auf großes Publikum angekommen wäre, aber in diesem Fall spielte es doch eine Rolle: Immerhin würde es für meine Eltern die allererste Lesung ihres Lebens sein.

„Erste Deponenta“ – so hieß das Erfurter Festival. Der Titel verwies unmittelbar auf den spektakulären Veranstaltungsort, ein Straßenbahndepot der Stadtwerke Erfurt, und natürlich auf die berühmte „Documenta“. Um 19 Uhr sollte die Lesung beginnen, kurz vor sieben betrat ich das Depot, aber niemand war da. Keiner der zahllosen Klappstühle zwischen den Gleisen war besetzt. Das Depot, von den Veranstaltern die “Deponenta-Halle“ genannt, war ein riesiger Lokschuppen, wo ausrangierte Triebwagen und Straßenbahnwaggons ihrer Verschrottung entgegendämmerten. Genaueres war nicht zu erkennen, das Licht war diffus und die Maschinen waren mit einer dünnen Folie umhüllt, die sich fortlaufend blähte und zusammensackte, als versuchten die Maschinen trotz Einschnürung weiter zu atmen. Zudem war die Halle erfüllt von einer Art Sphärenmusik – eine „Klanginstallation“, die unter dem Eindruck der Leere und vollständigen Abwesenheit eines Publikums eine beinah gespenstische, furchteinflößende, jedenfalls entmutigende Stimmung verbreitete.

Unschlüssig war ich im Eingangsbereich stehengeblieben und schon zur Umkehr bereit, als ich in einer Ecke der Halle etwas Seltsames erblickte: eine Imbissbude. Und tatsächlich gab es dort einen Gast. Ein einzelner Mann, der, halb aufgestützt, an der kleinen Theke vor der Luke stand und, wie es schien, mit schwerer Hand, eine Mitropa-Tasse zum Mund hob; es war Wolfgang Hilbig. Für einen Moment sah ich auch Hilbig als Installation. Auf dieser Documenta-Deponenta (damals ging es noch um Kunst) war Hilbig Hauptakteur jener unvergesslichen Colombo-Szene mit Imbissbude in „Himmel über Berlin“ von Wim Wenders. Ich sah Hilbig als Colombo, allein, rauchend, mit hochgeschlagenem Kragen, der dem unsichtbaren Engel die Hand entgegenstreckte, direkt vor einer Imbissbude auf dem Potsdamer Platz in Berlin, am Rande irgendeiner Ödnis zwischen Ost und West. Schade, dass ich nicht den Mut fand, Hilbig das zu erzählen. Ich fand, dass er Peter Falks Colombo tatsächlich ähnlich sah, die gedrungene Gestalt, das gewellte, lockige Haar … Was wir schließlich redeten, weiß ich nicht mehr, nur dass ich sehr aufgeregt war und nervös und meinen Kaffee verschüttete, der Hilbigs Leseexemplar ruinierte.

Als wir dann, schon wie Geschlagene in einem sinnlosen Kampf, die toten Bahngleise entlang nach vorn tappten zu Bühne, wurden fünf Zuhörer gezählt. Wie um sich ein wenig zu wärmen in der eiskalten Halle (die Fenster waren nicht dicht oder zerbrochen) hatten alle fünf nebeneinander in einer der mittleren Reihen Platz genommen, zwei Veranstalter, ein Buchhändler und meine Eltern. Mein Vater trug einen dunklen geschlossenen Anzug mit Binder, meine Mutter, frisch frisiert, ein viel zu dünnes Kostüm. Ein größerer Kontrast zur „Ersten Deponenta“ war eigentlich nicht vorstellbar. Meine Eltern hatten sich fein gemacht – um auszugehen, zur ersten Lesung ihres Lebens, eine Sache, von der sie bis dahin keinerlei genauere Vorstellung besessen hatten, die nach ihrer Maßgabe aber doch nichts Geringeres bedeuten konnte als Oper oder Theater, jedenfalls einen festlichen Rahmen verlangte, zumal sogar ihr Sohn mitwirkte, der sie eingeladen und extra Plätze hatte reservieren lassen.

Während des Vortags meiner neuen Gedichte (ein dumpfer Hall im leeren Depot) sah ich, wie meine Mutter sich fröstelnd ihren Mantel über die Schultern zog. Mein Vater half ihr, blieb ansonsten aber vollkommen reglos. Zuerst war ich gerührt gewesen von ihrer Erscheinung, Anzug und Kostüm, jetzt schmerzte der Anblick. Die Sphärenmusik war abgeschaltet, doch das Rascheln der Folien dauerte an, die Waggons links und rechts rangen nach Luft und würden beim nächsten Vers ersticken, so oder so ähnlich dachte ich damals und las trotzdem, was zu lesen war, Gedicht für Gedicht, bis zum bitteren Ende.

Am nächsten Morgen, auf dem Heimweg nach Berlin, fuhr ich noch einmal bei meinen Eltern in Gera vorbei, wir hatten uns nicht mehr gesprochen am Abend. Eine diffuse Mischung aus Gram und Scham trieb mich um, und ja, natürlich hatte ich Schuldgefühle. „Es war doch sehr schön, dich einmal zu sehen, für uns!“, rief meine Mutter mir schon auf der Treppe entgegen in ihrem nie nachlassenden Eifer, in allem, was uns betraf, einen Moment von Erfolg zu erblicken. Mein Vater ergänzte, er sei „inhaltlich vollkommen zufrieden“. Gleich nach ihrer Heimkehr hätten sie ein schönes heißes Bad genommen, und damit sei auch das erledigt gewesen. Natürlich wollte ich erklären, dass es nicht immer so wäre wie im Erfurter Depot, aber zuerst gab es Fleischrouladen und Thüringer Klöße und dann war es nicht mehr so wichtig. Die „Erste Deponenta“. Was mir bis heute davon bleibt: Colombo an der Imbissbude, mein Wolfgang Hilbig-Erinnerungsporträt.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 12. Oktober 2022.


Bild links:
Shedhalle der alten Seidenweberei in Berga/Thüringen

Nächster Artikel