Die Liebe zur Einfalt

Die Liebe zur Einfalt

„Am Abend hielt Mutter gern ein Ei in der Hand.“ Oder: „An manchen Tagen sehen alle alten Frauen meiner toten Mutter ähnlich. Dann möchte ich die Arme heben und so lange in alle Richtungen winken, bis ich wieder bei Trost bin.“ Zwei Sätze aus Wilhelm Genazinos „Die Liebe zur Einfalt“, einem der wenigen Bücher, die ich wenigstens einmal im Jahr zur Hand nehme, immer wieder aufschlagen möchte und schon einige Male gelesen habe, ein Buch aus der Lebensbibliothek, könnte man sagen, aus den heiligen Beständen.

Im Trubel des Jahres 1990 erschienen, hatte es keine Chance, wirklich wahrgenommen zu werden. Dafür können wir es jetzt in Ruhe und immer wieder lesen und sehen, wieviel Zeitgeschichte dort erzählt wird. Für solch kunstvolle und zugleich detaillierte Beschreibungen einer arbeiterlichen, kleinbürgerlichen Herkunft werden heute Nobelpreise vergeben. Und nicht umsonst taucht Marguerite Duras immer wieder auf bei Genazino – was heute gern „Autofiktion“ genannt wird, hat es schon immer gegeben (Duras, „Der Schmerz“), damals hieß es „subjektive Authentizität“ und die Behauptung, dass es „genauso war“, schützte nicht im Geringsten vor dem Anspruch, gute Literatur zu machen.

Ludwigshafen, Mannheim, Frankfurt am Main – 1990 waren das exotische Orte für mich, und sie sind es eigentlich noch immer, aber eben auch ein Stück Heimat, was ich den Büchern Wilhelm Genazinos verdanke.

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