Der Schwung des Maurerarms

Der Schwung des Maurerarms

Wir fahren mit der Metro bis Central Park North und spazieren dann Richtung Süden, am sogenannten Harlem Meer entlang. Die ersten Weißen im Park treffen wir auf Höhe des Conservatory Garden. Ich habe begonnen, Ausschau zu halten, obwohl es viel zu früh ist dafür. Der Blick nach Osten – manchmal sind Bäume im Weg oder ein Hügel. Ich bin ein bisschen ungeduldig und fotografiere ein paar Häuser, die so unglaublich hässlich sind, dass man es kaum glauben mag. Ich verstehe, warum der Architekt Frank Lloyd Wright die Stadt New York schon Anfang der vierziger Jahre für unrettbar verloren hielt. Es sei einfach zu spät, um dort noch etwas Gutes zu machen. Er hat es dann trotzdem getan, vielleicht nur, um den „glass-box-boys“, wie er seine Kollegen nannte (Mies van der Rohe, Le Corbusier, Oscar Niemeyer), zu zeigen, dass es auch anders geht.

Es ist noch sehr warm an diesem 30. September, keine Spur von Herbst in Manhattan. Ein lauer Wind kommt auf und leises Rauschen der Platanen. Der an jedem Morgen von tausend kleinen East- und West Side-Hunden aufgefrischte Gassigeruch verschlägt uns den Atem. Dann sehen wir es. Zuallererst ist es nur ein heller Schimmer zwischen den Bäumen. Noch da, denke ich, noch nicht abgeflogen (zu irgendeinem schöneren Ort, draußen auf dem Land vielleicht), und bin froh.

THE SOLOMON R. GUGGENHEIM MUSEUM ist ein mächtiges Schiff, und seine Schönheit leuchtet in der Sonne. Es war nicht leicht, dort zu landen, in dieser Lücke zwischen 88. und 89. Straße. In der Geschichte der Architektur hat es nur selten größeren Widerstand gegen ein Gebäude gegeben. Und Häme – von allen Seiten, auch die modernen Künstler, für deren Werke das Museum geplant war, machten mit dabei. Sechzehn Jahre bis zur Fertigstellung – weder Guggenheim noch Wright erlebten diesen Tag im Oktober 1959.

Bei mir: Kindliche Freude. Reine Freude über ein Gebäude, das mir augenblicklich meine jugendlichen Träume über die wunderbare Beschaffenheit der Zukunft vor Augen führt. Science-Fiction aus der Reihe „Spannend erzählt“. Expeditionen mit Jules Verne und Stanislaw Lem. Sieben Jahre vor Kirk, Spock und Lieutenant Uhara baute Wright hier an der Fifth Avenue den Prototyp für Raumschiff „Enterprise“.

Eine Weile stehen wir noch auf der Seite des Parks und schauen hinüber: Die vier übereinander schwebenden Scheiben der Rotunde in der Nachmittagssonne. Ihre vollkommene Rundung und ihr Steigen – wie sie wachsen und den Raum ergreifen, ähnlich der Krone eines Baums. Massiv und anmutig zugleich. Aber auch trotzig und stark. Das Phantastische geht bei Wright aus dem Natürlichen hervor, nur deshalb rührt uns der Anblick. Den Kritikern des Guggenheim stand das Organische seiner Bauweise am deutlichsten vor Augen. Zur Eröffnung wurde das neue Museum („Frank Lloyd Wrights lustigste Monstrosität“) wahlweise mit einem Klumpen Lehm oder einem Bienenstock verglichen, was eben einfach nicht passe in New York. Und tatsächlich: Rundum tagt das Zentralkomitee der Zweckdienlichkeit; die seelenlosen Wächter der Funktionalität haben hier ihre Hauptversammlung. Dabei ist das Guggenheim Museum das einzige Gebäude, das Bezug nimmt auf den Central Park gegenüber, ohne den Manhattan nur ein großer Haufen Steine wäre. Erträglich ist das Ganze nur aus der Ferne, als erstaunliche Anhäufung, Skyline, seltsame Hypertrophie.

Anders beim Guggenheim. Schon lange steh ich unter der Rotunde und blicke nach oben. Um vier Uhr an diesem Nachmittag ist sie lange genug in der Sonne gewesen, so dass sie nun endlich aus sich selbst heraus zu leuchten beginnt. Jetzt tritt das Wesentliche klar hervor und kann gelesen werden: Feine Umrisse, Absätze, Strukturen – regelmäßige und unregelmäßige. Dieser Bau ist alles andere als glatt oder vorhersehbar. Im Gegenteil, er ist „spannend erzählt“. Jede Rundung folgt ihrer eigenen Partitur, kein Kunststoff, kein Aluminiumfertigteil. Statt dessen der mutige Rückgriff auf ein Material, das erst vor Ort in seine Form gegossen werden konnte: „Here’s a fine, old-fashioned homely material – concrete – that Mr. Wright is putting on Fifth Avenue and making beautiful.“

Sichtbeton und seine Schattenschrift – so liebevoll wie Bauleiter George N. Cohen im Mai 1957 vom “Beton-Job” am Guggenheim spricht, so einmalig und intensiv muss diese Arbeit gewesen sein; wir lesen es nach im Leuchten der Rotunde: Die Abdrücke der Schalung, das riesige Gefäß, von Zimmerleuten angefertigt und mit Stahl bewährt. Diese Schalung war ein Meisterwerk – sie war das eigentliche Kunstwerk (Zimmermannskunst), aus dem das Guggenheim hervorgehen konnte, eine riesige Skulptur, die in ihren feinen und feinsten Strukturen von dieser Arbeit erzählt. Auch vom Flickwerk, den nachträglich verriebenen Passagen, die im leichten Verputz, der stellenweise nötig war (vermutlich vor zehn Jahren, bei der Rekonstruktion), sehr gut sichtbar blieben. Was ich dort sehe, ist der Schwung des Maurerarms und seines kleinen kreisenden Reibebretts, mit dem er der Fassadenhaut letzte Gestalt verleiht.

Schon eine ganze Weile bin ich nicht mehr das staunende Kind vor dem Raumschiff Guggenheim. Ich bin etwas älter geworden; ich bin jetzt der Maurer aus Gera, der träumt, nur mitten in New York und ein paar Jahrzehnte später. Noch einmal sehe ich die Fotos durch: Auf wunderbare Weise kommt hier alles zusammen – eine Schönheit der Form und die Ästhetik eines Materials, auf dem große Handwerkskunst ihren Abdruck hinterlassen hat.

Um 16.36 Uhr habe ich mein letztes Bild vom Guggenheim gemacht. Es ist nur ein Detail, rund um das kleine Wort „THE“ im Schriftzug des Namens am großen Museum. Wahrscheinlich ist dort, in das Wort, etwas Feuchte eingedrungen und blüht jetzt langsam aus, wie es die Maurer sagen. Kunst-Moment des Jahres.

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