Der Tod des Künstlers

Der Tod des Künstlers

Aus irgendeinem Grund hatte ich über die Jahre vergessen, dass Kafkas „Hungerkünstler“ am Ende doch gestorben war – „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt“, so lauteten seine letzten Worte. Mir hatte sich das anders eingeprägt, seltsamerweise. In meiner Erinnerung wussten die Zirkusdiener, als sie auf den vergessenen Käfig des Hungerkünstlers stießen, gar nicht mehr, wozu dieser inzwischen gründlich verlotterte Ort mit dem alten, schmutzigen Stroh eigentlich einmal bestimmt gewesen war, „und warum man hier einen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenützt stehen lasse“. Bis dahin lag ich noch nicht falsch, aber dann: Meiner Erinnerung folgend, reinigten die Diener daraufhin den Käfig, aber ohne den Hungerkünstler dabei zu entdecken, der im Stroh zu weniger als einer Ahnung von Haut und Knochen geschrumpft war, kurz: sie fegten mit dem faulen Stroh auch den Künstler aus dem Käfig – ganz ohne zu bemerken, dass dort noch etwas lebte.

Und dann? Was dann? So lautete die Frage (Kinderfrage), die für mich mit diesem Bild verbunden war und mich ab und zu (und ja, tatsächlich, immer mal wieder) dazu brachte, an das weitere Schicksal dieses armen im Stroh so gründlich vergessenen Künstlers zu denken. Wohin brachten die Diener das Stroh? Und was geschah dann mit diesem unglückseligen, strohhalmähnlichen, zu einer Art Unsterblichkeit heruntergehungertem Wesen, in dem der Künstler und seine Kunst noch anwesend waren?

Folgendes geschah: Das verbrauchte, von Fäkalien braune Stroh (der Mist, nennt es die Landwirtschaft) wurde von den Dienern in ein kleines, hinter dem Zirkus gelegenes Waldstück gekippt. Dort wurde es schließlich auch gefunden, von jenem jungen, wissbegierigen, in der Geschichte der Künste belesenen Mann, der schon lange danach gefahndet hatte und natürlich selbst ein Künstler werden wollte – nicht im Hungern, aber im Dichten; er hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass beides sich nicht allzu sehr voneinander unterscheidet, und mehr noch, dass es gewisser Weise zusammengehört.

Das Stroh war nur noch ein fauliger Morast. Der junge Mann, warum auch immer, nahm ein Birkenstöckchen und stocherte ein wenig darin herum. Dabei schlug ihm das Herz bis zum Hals, er wollte es jetzt wissen, hatte alles studiert, war in den Archiven und hatte diesen Weg gefunden, bis hierher – er hatte es einfach verdient. Vorsichtig wühlte er ein wenig tiefer; die Süße der Fäulnis in seiner Nase, er atmete den Schimmel und dann, es war kein Traum, hörte er die Stimme. Sie war nicht einmal leise oder matt, eher hart und klar. Es war nur ein einziger Anlaut, eine Silbe auf „A“, verschiedene Silben, genauer gesagt: „Arg, All, An, Arb“ und so fort und immer weiter, in endloser Folge, „Ab, Aff, All, All …“

Die Vögel ringsum verstummten wie verwundert, und augenblicklich lauschte die Welt, als folge nun (endlich) das Zauberwort, auf das sie so lange gewartet hatte, eigentlich alle schon immer gewartet hatten.

„Was denn, was?“ fragte der junge Mann ungeduldig (dumme schlimme Ungeduld) und stocherte nach, ohne dass er den Künstler wirklich erkennen konnte. Er war nicht mehr als eine Ahnung, ein Umriss im Schimmel, Schrift von Sporen im Stroh, entziffert mit jenem Respekt, den der junge Mann hegte vor seiner Person, diesem Vorbild und Mentor, so zweifelhaft er auch erscheinen mochte in diesem Augenblick.

„Sprich doch, bitte …“

Plötzlich war es so, als hinge alles von dieser letzten Botschaft ab. „Was, was?“, rief der Junge und stieß mit seinem Stock ins Stroh, und in genau dieser Sekunde verstummte das „A“ – und zwar für immer.

Während der Lesereise mit meinem letzten Roman, in dessen Epilog diese Strohphantasie eingeflochten ist, habe ich öfter (und ziemlich gern) darüber gesprochen, wie mich das fehlende Ende der Geschichte von Kafkas „Hungerkünstler“ immer wieder sehr beschäftigt hat. Nie hat mir jemand widersprochen, niemand ist aufgestanden, mir zu sagen, dass es doch ein Ende gibt.

Erst aus Anlass dieses Textes habe ich den „Hungerkünstler“ noch einmal gelesen – und bin erschrocken. Meine Absicht war, über das offene Ende zu schreiben und wie es mich noch immer sehr beschäftigt, die Unruhe, weil doch der Künstler dort noch existierte, im Stroh irgendwo, jedenfalls für mich, der es so gelesen hatte. Schrecklich war auch, dass seine Deportation so gänzlich unbemerkt und im Grunde unbeabsichtigt geschah und zu einem Zeitpunkt, zu dem seine Kunst schon längst vergessen war. Kein Publikum mehr, dass noch von ihm wusste, keine Fragen – vollkommen trostlos war diese Geschichte.

Und wahrscheinlich war gerade das mein Ausgangspunkt. Die Frage, ob ich, nur für mich, die Geschichte zu Ende bringen konnte. Für mich starb der Künstler erst auf dem Kompost, während seiner Kompostierung gewissermaßen. Ein Mord ist es nicht, aber eine Art Todschlag ist es schon, in allerbester Absicht, könnte man sagen. Verübt von einem jungen unschuldigen Mann in seiner Wissbegier: Er will und kann auf die Botschaft des Künstlers einfach nicht verzichten, er will das einfach wissen, um jeden Preis. Zu hungern ohne Botschaft, ist für ihn schon nicht mehr vorstellbar. Und deshalb muss der Künstler sterben? Ja.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 9. April 2024.


Bild links:
Schäden an der Uranhalde von Culmitzsch, aufgenommen am 19.02.2024