100 Euro oder mehr: Die Notizbücher

100 Euro oder mehr: Die Notizbücher

Es dauerte ein paar Jahre, bis ich mir angewöhnt hatte, immer ein Notizbuch bei mir zu tragen, meine Einträge zu datieren und die Notizbücher fortlaufend zu nummerieren. Nummer 1: Ein winziges rotschwarzes Büchlein, liniert. Hinten, auf der Innenseite des Notizbuchdeckels (Pappe mit Papier beklebt) ist der Schattenriss eines schreibenden Jungen zu sehen, er sitzt da an seinem Pult und darunter steht »No. 6810 / SHANGHAI, CHINA«
.

Dieses erste meiner einigermaßen sorgfältig (und lesbar) geführten Notizbücher beginnt im Dezember 1993. Mein allererster Eintrag steht vorn, im Innenband, also so, als wäre das ein Motto: »Es beginnt eine falsche, auf den Bahndamm gegründete Hoffnung«
, und weiter: »Daß stündlich auf dieser Welt ein Schienenarbeiter erfaßt und überfahren wird, betrifft die hypnotische Wirkung der Gleise, nicht nur ihren Glanz und ihren Klang beim Herannahen des Zuges …«
 Was ich mir damals dabei dachte, habe ich vergessen. Aber es ist mir nicht fremd, ich könnte es sicher erklären.

Das Notizbuch, das ich in diesen Tagen immer bei mir habe, wird die Nummer 104 tragen – falls ich es nicht verliere. Inzwischen gehört der mögliche Verlust des Notizbuchs zu den größten Bedrohungen des Schreibens (ich möchte sagen: des Lebens, tue das aber nicht angesichts all der »ernsthaften Bedrohungen in dieser Zeit«
). »Denk an die wirklich schlimmen Dinge, das hilft, die Sache einzuordnen.«
 – Leider funktioniert das nicht. Der Gedanke an ein möglicherweise verlorenes Notizbuch bleibt unerträglich, und so gab es in den letzten Jahren nicht wenige Situationen, in denen ich panisch (zitternd) meine Taschen, die Wohnung und den Garten abgesucht habe, voller vorauseilender Verzweiflung, im Zentrum die Klage: Welche Notizen mich (womöglich) zu welchen Texten geführt hätten, Texte, die (wahrscheinlich) einen entscheidenden Schritt bedeutet hätten im Schreiben (und also im Leben), der jetzt für immer ausbleiben würde.

Wirklich verloren habe ich nur ein einziges Exemplar, im Sommer 1999, leider mit den Aufzeichnungen meiner ersten Amerikareise. Zweimal wurde mir ein auf Reisen verlorenes Notizbuch nachgeschickt, an meine Heimatadresse, die ich (genau für diesen Fall), auf die erste Seite jedes meiner Notizbücher schreibe: »Im Falle des Verlusts zu senden an…«
 Dann die Adresse und dann »Belohnung: 100 Euro oder mehr«
. Jedes Mal zögere ich an dieser Stelle, für einen Moment bin ich unsicher. Selbstverständlich ist mir das Notizbuch mehr wert, es zählt zum Kostbarsten überhaupt, neben den Manuskripten und neben den laufenden Randnotizen in Büchern, die ich gerade lese (weshalb diese ebenfalls um keinen Preis verloren gehen dürfen und nicht verborgt werden können).

»100 Euro oder mehr«
 – die seltsame Inkonsequenz in der Angabe des sogenannten »ehrlichen Finderlohns«
 rührt allein daher, dass ich glaube (ich stelle es mir vor), dass eine höhere Summe beim Finder nur für Irritation sorgen würde. Was soll ein Finder denken, wenn er so ein kleines unscheinbares Heftchen mit ein paar unverständlichen und unzusammenhängenden Kritzeleien findet und dann steht dort ein Betrag, der jede Vernunft übersteigt? Er hielte das Ganze doch eher für unglaubwürdig, vielleicht sogar für eine Falle, einer unlauteren, ziemlich raffinierten Kontaktanzeige ähnlich, mindestens aber für Unsinn und nicht weniger irrwitzig als die Notizen, die ein Finder mit seiner ehrlichen Finderneugier vielleicht hier und da überflogen hätte. Also landete das Notizbuch nicht im adressierten Kuvert, sondern auf der Straße, im Müll, in der Tonne – und hier beginnt die düstere Bildwelt des Notizbuchverlusts, wie sie mich regelmäßig heimsucht, selbst wenn das Notizbuch sich bei mir in der Tasche und also, vorläufig, in Sicherheit befindet.

Die seltsam altertümliche Formulierung »Im Falle des Verlusts zu senden an …« habe ich von Peter Huchel übernommen. Sie findet sich (mit blauer Tinte geschrieben) in einem sehr speziellen, einmaligen Notizbuch, bei dem es sich um keine gewöhnliche Sammlung fortlaufender poetischer Notizen handelt, sondern um ein nach selbsterfundenen Hieroglyphen geordnetes und nach Doppelseiten vornummeriertes Metaphern-Register, eine Art Registratur für die spontanen Bildeinfälle, die zugleich als abrufbereiter Katalog für die laufende Gedichtproduktion funktionieren konnte. Wasser-Metaphern unter dem Zeichen des Wassers (doppelte Wellenlinie) oder Mond-, All- und Erdmetaphern mit dem Kreis als Chiffre usw. – nach vierzehn dieser Chiffren oder Signaturen ordnete Huchel seine Welt.

Erst später entdeckte ich, dass die Notizbücher von Moleskine eben jene Wendung im Einband haben: »In case of loss, please return to …«


In den Notizbüchern blättern und lesen … Auf der Suche nach Material oder irgendeinem Anfang, ist es gut, wenn die Notizen schon ein paar Jahre alt und dem konkreten Geschehen im Moment der Notiz weitgehend entrückt sind. Jedenfalls gilt das für die Arbeit am Gedicht. Es ist gut, den alten Lebenstext weitestgehend vergessen zu haben und die Notiz wie etwas beinah Fremdes zu lesen, etwas, das einem auf diese Weise neu begegnet. Neu und vielleicht einigermaßen fremd, aber (natürlich) im Wissen darum, dass man das einmal selbst geschrieben hat – ja, es gibt Indizien, dass man das selbst gewesen ist, vor fünf, sieben oder zwölf Jahren, so unwahrscheinlich das manchmal erscheinen mag. Das Material reift in dieser Zeit, es entwickelt jene »legendäre Qualität“ (ich nenne es so), die es als Ausgangsmaterial für die Arbeit am Gedicht brauchbar macht.

Material für das Gedicht »signalstation arholma«
 zum Beispiel lieferten die Notizbücher Nummer 39 und 42. Nummer 39 beginnt am 31. Juli 2006 – wir waren zu dieser Zeit an der schwedischen Ostseeküste unterwegs, nordöstlich von Norrtälje, das heißt etwa hundert Kilometer nördlich von Stockholm, unter anderem in Grisslehamn und einem kleineren Ort namens Herräng, wo wir uns eingemietet hatten in einem Bungalow, nicht weit vom Wasser. Am 3. August 2006 fuhren wir dann von Simpnäs mit dem sogenannten Passboot auf die Insel Arholma, die weit draußen liegt in den Schären, mit Blick aufs offene Meer. Es war ein kleines altgedientes Schiff, die Tür zum Maschinenraum stand offen, man konnte dem Diesel bei der Arbeit zusehen. Im Jahr darauf, am 25. Juli 2007, fuhren wir noch einmal nach Arholma, die Notizen dazu fand ich im Notizbuch Nummer 42. Etwa sieben Jahre später entstand das Gedicht.

Notizbuch Nr. 39 und Nr. 42 mit Inhaltsverzeichnis.

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