Was arbeiten Sie?

Was arbeiten Sie?

Eine Art von verlegenem Stolz fällt mir ein, wenn ich an meine Aufnahme in den Suhrkamp-Verlag denke, vor 25 Jahren. Ich erlaube mir, mich an zwei winzige Geschichten zu erinnern, die hoffentlich auch etwas über Siegfried Unseld erzählen. Einmal, auf dem Buchmesse-Empfang der FAZ bei Frank Schirrmacher im Herbst 2000, hat Siegfried Unseld versucht, zwei seiner neuen jungen Autoren, nämlich Andreas Mayer und mich, bei dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki bekannt zu machen, und zwar mit Mitteln der Komödie, das heißt, Siegfried Unseld hat versucht, einen Scherz zu landen, mit unserer Hilfe, in unserem Sinne – auf unsere Kosten, wäre schon zu viel gesagt.

Jemand vom Verlag geleitete uns an den Tisch der beiden Alten, Ehrwürdigen, im Grunde Unerreichbaren, Unseld und Ranicki, der Abend war schon fortgeschritten, in meiner Erinnerung so weit fortgeschritten, dass über alles gelacht werden konnte oder musste. So traten wir also in einer Art Tandem aus Lyrik und Prosa an den Tisch, Siegfried Unseld deutete auf Andreas Mayer und sein über der Brust halb aufgeknöpftes schneeweißes Hemd und sagte, hier käme, wie unschwer auszumachen, „unser neuer Dichter, und das“, er deutete auf mich, „ist unser neuer Romancier“. Schon damals hätte ich gern gewusst, welche äußeren Merkmale mich eigentlich für diesen Scherz qualifizierten, für diesen Scherz mit Rollentausch, denn schließlich war doch ich der Dichter, oder etwa nicht?

Wenn ich mir heute die Szene vor Augen führe, die beiden jungen Autoren, die immer noch wie Schüler dort standen, vor dem Tisch, dazu Reich-Ranickis skeptischen Blick und Siegfried Unselds große Geste, mit dem Arm über der Runde, aber eigentlich über dem gesamten Raum, der Messe und ihren Empfängen – es ist dieser Unseld-Arm, den ich dann sehe, zuerst diesen Arm, der uns immer alle einbezog, während er sprach, der Arm eines Lenkers, Dirigenten, Propheten vielleicht, in dessen Schwenk- und Deutungsbereich man doch noch alles werden konnte, sogar Romancier.

Eine Villa in Frankfurt, Buchmesse 2000, in meiner Erinnerung war der Weg dorthin finster und nur nach ausgiebigem Studium meines Stadtplans zu finden gewesen, er führte durch ein seltsam leeres Land, ähnlich einer Brache mitten in der Stadt, als hätte die Mauer in Frankfurt gestanden … Wenn ich also heute noch einmal zurückdenke an diesen Ort, zweite oder dritte Etage, und ich glaube, es war eine Art Arbeitszimmer, Frank Schirrmachers Arbeitszimmer vielleicht, hell, gut beleuchtet, mit vielen Bücher natürlich an den Wänden und jenem großen schweren Tisch in der Ecke, von dem aus die Alten, Ehrwürdigen die Jungen herbeizitierten, verstehe ich darin, vielleicht auch mit Blick auf mein eigenes kleines Vierteljahrhundert in diesem Verlag, einen Hinweis auf den Humus der Möglichkeiten, die Suhrkamp mit Unseld an der Spitze im besten Falle bot.

Sicher, zuerst war es ein Scherz, der als Scherz seine Grenzen hatte, aber doch funktionierte irgendwie, Rollentausch mit Ironie und tieferer Bedeutung, obwohl Marcel Reich-Ranicki ein zweifelnd-knarrendes „Na-na-na“ vernehmen ließ und obwohl die beiden jungen Autoren, die ja gar nicht eingeweiht waren, ihre Rollen aus dem Stehgreif eher verlegen improvisierten. Aber das sind nur die Nebensachen. Vielmehr geht es doch um die Idee, die sich hier ausgesprochen hatte, es geht um das, was ich den Humus der Möglichkeiten nenne, um das, was man vielleicht noch werden konnte in diesem Verlag, der die eigene Anwesenheit als Autorin oder Autor nicht in einzelnen Büchern, sondern Werken bemaß, was doch immer auch Vertrauen hieß und die damit verbundene Hoffnung, dass das Beste noch kommt, ob als Gedicht oder Prosa. Alles, was ich erlebt habe im Suhrkamp Verlag, spricht für diese Hoffnung. Es sprach von Anfang an dafür, weshalb ich zum Abschluss noch ganz kurz von meiner ersten Begegnung mit Siegfried Unseld erzähle.

Schon ein paar Tage vor dem Buchmesse-Abend mit jenem Scherz war ich für eine Lesung nach Frankfurt am Main gekommen, vorher wollte ich im Verlag vorbeischauen. In einem größeren Raum nahe des Foyers fand etwas wie eine Feier statt, alle Mitarbeiter des Verlags waren dort zusammengekommen, auch mein damaliger Lektor Thorsten Ahrend. Noch bevor ich ihn erreicht hatte, rief jemand „Ecce poeta!“ durch den Raum. Natürlich fühlte ich mich nicht gemeint, dass konnte auf diese Weise nur einem anderen gelten, aber im nächsten Moment stand ein großer Mann vor mir, der meine Hand ergriff, es war Siegfried Unseld, und es war der 28. September 2000, sein 76. Geburtstag, von dem ich keine Ahnung hatte.

Es gab Getränke, all die wunderbaren Verlagsmitarbeiter standen in Grüppchen beisammen, in der Tiefe des Raums waren ein paar Stühle aufgestellt, ich glaube, es gab sogar ein kleines Podest, ein Podium für den Jubilar. Dorthin wurde ich geführt, und dort saßen wir dann, und es begann ein Gespräch, das mir im Nachhinein die allergrößte Pein bereitete, so sehr, dass ich mich gedrängt sah, noch am selben Abend eine Art Entschuldigung oder Erklärung zu verfassen.

Im Kern ging es um Unselds Eingangsfrage, gestellt ohne Anlauf, wir saßen gerade: „Was arbeiten Sie?“ Ich war aufgeregt genug, aber damit dann ganz aus der Bahn, weil ich glaubte, erklären zu müssen, womit ich mein täglich Brot verdiente, dieses unübersichtliche, eigentlich unerfreuliche Etwas, ohnehin schwer zu beschreiben, aber versuchen musste ich es doch, bei so viel Anteilnahme. Ich stotterte eine Weile vor mich hin, es wurde kompliziert, viel zu kompliziert, so dass der Verleger mich schließlich unterbrach. „Junger Mann, ich meine: Was schreiben Sie gerade?“

Meine Verblüffung war groß, und sie ist es bis heute. Das Ritual dieser Frage „Was arbeiten Sie?“ und ihre literaturgeschichtliche Herkunft, die auf Brecht zurückgeht, kannte ich nicht. Ich habe es erst später erfahren. Ein Verleger, der sich für das Schreiben selbst interessiert und dafür, was noch kommen könnte, war ebenfalls ganz neu für mich. „Was arbeiten Sie?“ Ich höre die Frage bis heute, eigentlich sitze ich immer noch dort, auf dem kleinen Geburtstagspodest in der Frankfurter Lindenstraße und versuche, die gute, die richtige Antwort zu geben. Ich sage: „Ich arbeite an einem Roman, es geht ganz gut voran gerade.“ Ich verkneife mir die Rede von den Schwierigkeiten, jene endlose, nutzlose, von Zweifeln beladene Rede, und erkläre nur kurz, warum ich inzwischen auch Romane schreibe. Nicht wegen seines Scherzes, nein, und auch nicht, weil ich so aussehe wie ein Romancier, sondern wegen der Möglichkeiten, in diesem Leben und diesem Verlag.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 29. September 2024.


Bild links:
Auf dem Weg nach Pampas Marina / Stockholm

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