Solna Station

Solna Station

Einmal im Monat stehe ich in einem Bahnhof namens Solna Station, an der Strecke von Stockholm nach Uppsala. Hier, auf Gleis 3, verkehrt der „pendeltåg“, der mich zum Flughafen Arlanda bringt. Es ist dann 8 Uhr morgens und mit meinen beiden Rollkoffern im Schlepp stapfe ich bis ans Ende des Bahnsteigs, der sich wie eine Landzunge weit ins Meer der vielen sich überkreuzenden Gleise streckt.

Niemand geht bis ans Ende des Bahnsteigs. Man kann sehr gut allein und für sich sein da draußen – keine Aufgabe, kein Druck, nur die Reise. Der Kopf wird frei und die Augen sind frisch und begierig: Dort irgendwo am Horizont, von Nebel verhangen, nicht selten verhüllt von treibendem Schnee (Schnee gibt es hier oben von November bis April), liegt das Depot, der Ort, wo nachts die Züge schlafen, ein riesiges, unabsehbares Gelände. Um diese Zeit am Morgen kriechen sie langsam hervor, einer nach dem anderen, und kaum schneller als in Schrittgeschwindigkeit poltern sie dann an mir vorbei und verschwinden in einem der Felsen auf der anderen Seite des Bahnhofs. Dort tauchen sie ein, das ist ihr Weg, ein langer, nur spärlich beleuchteter Tunnel. Oben auf diesem Felsen leuchten die blauen Häuser von Hagalund, einem Stadtteil von Solna.

Das abgelegene Ende des Bahnsteigs, der Nebel und dann diese Züge, ihr merkwürdiger, atemberaubender Anblick: Die Karossen der Waggons sind vollkommen schwarz und nur die auffallend tief liegenden Türen haben einen weißen Trauerrand – wer tritt hier ein und wohin geht die Reise? Wer wird mitgenommen, abgeholt? Das ist es, was ich denke, jedes Mal. Und eigentlich ist es weniger als ein Gedanke, mehr ein Thema, eine Musik. Ein Rhythmus, noch vor dem Wort. Dazu das Dröhnen des Diesels, ihre stählerne Größe, das sanfte schwere Schlagen der Wagen auf dem Gleis. Es ist eine Art Walzer, ein schwarzer Walzer, denke ich und mir fällt ein Gedicht ein, das diesen Titel trägt, „Schwarzer Walzer“ von Ingeborg Bachmann. Ich erinnere mich an ein Foto von ihr vor der Spanischen Treppe in Rom. Sie trägt einen weißen Knautschlackledermantel wie ihn mein Vater einmal meiner Mutter geschenkt hat, Anfang der 70er Jahre. Ingeborg Bachmann ähnelt auf diesem Foto meiner Mutter, deshalb denke ich daran. Schwarzer Walzer, weißer Knautschlackledermantel.

Inzwischen beachte ich alle Details. Das Blech der Waggons ist gewellt wie das von Wellblechhütten und jeder Wagen trägt eine weiße Doppelschwinge, zwei weiße Flügellinien übereinander, auf tiefschwarzem Grund. Die Lokomotive (sagt man noch Lokomotive?) hat drei Bullaugen auf jeder Seite und einen roten Schneepflug. Die Tür zur Kabine des Lokführers (Charon, Charon summt es in meinem Schädel) ist nicht weiß, sondern gelb umrandet (das leuchtet mir ein). Außerdem trägt sie einen weißen Kreis. Innerhalb dieses Kreises ist der Umriss einer steil zu Boden stürzenden Schwalbe erkennbar, ebenfalls weiß auf schwarzem Grund. Unter dem Kreis sind zwei Worte geschrieben: „bra miljöval“, was etwa so viel heißt wie „eine gute Wahl für die Umwelt“.

Ich denke nicht genauer darüber nach, wie gesagt, ich lausch nur dem Walzer und summ ihn mit. Und jedes Mal bin ich dankbar und voller Staunen, dass all das geschieht: eine reale Welt, in der große schwarze Züge aus dem Nebel auftauchen und vorüberziehen. Wenn die Lichter meines „pendeltågs“ Richtung Uppsala auftauchen im Felstunnel (seine Wagen sind hellblau und modern), schau ich noch einmal zurück in den Nebel. Irgendwo dort hinten, hinter dem Depot, wo die schwarzen Züge schlafen, liegt auch die „Friends Arena“ und daneben die „Mall of Scandinavia“ und dahinter dann der kleine See, wo meine Frau, die früher eine Läuferin war, an jedem Montag die Ausdauer der Fußballjungs des Vasalunds IF trainiert hat, der Mannschaft, in der unser Sohn in der Innenverteidigung spielte. Eine Viertelstunde am Ende des Bahnsteigs und mein Kopf ist ganz klar: Ich stelle mir vor, wie ich einmal über all das schreiben werde, über die schwarzen Züge und unser Leben in Schweden.

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