Lass uns in Himmel kommen

Lass uns in Himmel kommen

Bei Himmel denke ich vor allem an den Nachthimmel, an Mond, Sterne, Laterne – und Kalaschnikow. Ich denke an jenen seltsamen Moment in der mondbeschienenen Finsternis im November 1987. Wir waren zur Nachtübung ausgerückt, ins Manövergelände auf den Uranhalden hinter Seelingstädt – nur einen kurzen Fußmarsch von meinem thüringischen Heimatdorf Culmitzsch entfernt, das es schon lange nicht mehr gab, die Sowjetisch-Deutsche AG Wismut hatte es für den Uranbergbau geschleift. Man hatte uns umgesiedelt, und jetzt kehrte ich (gewissermaßen) zurück, mit Stahlhelm und in voller Kampfmontur: als Rache-Engel. Aber es war nur die übliche „Weiterbildung“ für Studenten, zwei Monate bei der Nationalen Volksarmee nach dem zweiten Studienjahr. Ehemalige Gefreite wurden zu Unteroffizieren der Reserve, ehemalige Unteroffiziere zum Leutnant ernannt – das heißt, wenn alles „normal“ verlief.

Nach der Hektik des Gefechtsalarms war es, wenn ich mich richtig erinnere, ein geruhsamer, fast besinnlicher Marsch. Man wurde wieder müde, versuchte, im Gehen bisschen zu schlafen, und wie im Traum umrundeten wir das Gelände, wo der „Yellow Cake“ hergestellt wurde, Ausgangsstoff für die russischen Atomsprengköpfe. Irgendwo auf den Halden gruben wir uns ein und warteten auf den Angriff. Dass man in radioaktivem Boden nicht gräbt, war damals vielleicht noch nicht so bekannt.

Der Mond ging auf und das Warten wurde lang. Vielleicht war es die Strahlung oder doch eine Art Rebellion: Einer der Kameraden stimmte das Lied an: „Der Mond ist aufgegangen“. Er kannte alle Strophen, bis zum Vers mit dem kranken Nachbarn. Die letzten Strophen mit Gott und Tod hatte man bei uns zu Haus wohl weggelassen, ich hörte sie das erste Mal, dort auf der Halde: „Wollst endlich sonder Grämen /aus dieser Welt uns nehmen / durch einen sanften Tod; / und wenn du uns genommen, / laß uns in Himmel kommen, / du unser Herr und unser Gott.“ Ab zweite Strophe sangen ein paar Leute mit, am Ende die halbe Kompanie. Ich glaube, ich hab mich dem Himmel nie wieder so nah gefühlt wie in diesem Soldaten-Chor, in dieser Nacht auf der Halde.

Natürlich war das Aufruhr. Ich wurde nicht Unteroffizier, nur Unteroffiziers-Anwärter, für den Ernstfall. Ich glaube, keiner von uns wurde befördert. Als unser Vorsänger „Mondnacht“ von Eichendorff anstimmte („Es war, als hätt der Himmel / Die Erde still geküßt“), begann der feindliche Angriff. Auf dem Manövergelände waren Panzer- und Geschützattrappen installiert, die mit einem Schlag hochklappten und auf unsichtbaren Schienen auf unseren Graben zurasten. Vollkommen irre. Die Attraktion: Diesmal hatten wir Leuchtspurmunition in unseren Magazinen, „ein faszinierender Anblick“ hatte Hauptmann M. gesagt, und es stimmte. Wir feuerten, was das Zeug hielt und machten sie fertig. Einige schossen auch nicht und ließen die Mumpeln (Patronen) heimlich im Graben verschwinden. Das war mutig und auch sehr klug, denn beim Waffenputzen am Morgen hatten sie kaum etwas zu tun.

Lutz Seiler

Dieser Text erschien zuerst in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 10.08.2022.


Bild links:
Diorama im Verteidigungsmuseum in Boden / Norrbotten / Schweden

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