Im Kieferngewölbe

Im Kieferngewölbe

Vieles ist jetzt anders als im letzten Frühling. Die schönen »Plötzlich-Zeit-Gefühle« kommen nicht mehr auf. In meinen Notizen vom Frühjahr kann ich sehen, von welcher (mehr oder weniger schamhaften) Euphorie mein erzwungenes Einsiedler-Dasein damals noch getragen war. Jetzt ist alles nüchterne Prosa: Ich notiere, recherchiere und bereite meine nächste Reise nach Stockholm vor, mein zweites Zuhause. Woran einige wichtige Erledigungen geknüpft sind, die vor allem mit dem Zustand meines Autos zu tun haben, dem plötzlich eine beinah existentielle Wichtigkeit zukommt. Was mich an früher erinnert, die langen Sonntagvormittage mit meinem Vater in der Garage: Vergaser einstellen, Bremsen entlüften, die ewige Wartung und Pflege. Wenn alles gut läuft, schaffe ich die tausend Kilometer bis Stockholm in etwa 14 Stunden, inclusive Fähre über die Ostsee. Ich verfolge die Grenzregelungen und Reisewarnungen, seit einiger Zeit wird auch wieder vor Schweden gewarnt. Nur Västernorrland, Richtung Polarkreis, war für ein paar Wochen ausgenommen.

Ansonsten stehe ich spätestens um 8 Uhr auf und arbeite. Mein Recherche-Treffen mit M. in Berlin muss jetzt im Freien stattfinden. Eigentlich lebt M. in Los Angeles, schon seit zwanzig Jahren, aber das Virus hat ihre Rückreise verzögert. Die Gespräche mit ihr sind sehr wichtig für mich und vielleicht der Schlüssel für ein neues Buch, in jedem Fall ein starkes Material. Auch hier der Versuch, die neue Situation zu meistern, das heißt, das Café als Ort der Begegnung und den Tisch als Schreibunterlage bestmöglich zu ersetzen. Ich schmiere uns Stullen (mit verschiedenem Belag, weil ich nicht weiß, was M. isst oder nicht isst), dazu eine Thermoskanne mit Kaffee, Äpfel, gute dunkle Schokolade (Nervennahrung) und zwei Sitzkissen für den Fall, dass wir eine Bank finden, die uns gefällt. Was nicht unbedingt sein muss, da ich auch im Gehen gut schreiben kann (auch beim Autofahren übrigens, auf tausend Kilometern geht einem so manches durch den Kopf) und ein spezielles schwedisches Notizbuch dafür habe, das geschmeidig und zugleich sehr stabil ist.

Jedenfalls erlaubt ein Rucksack freie Hände, und so spazieren wir nicht weit vom Ostkreuz am Ufer der Spree entlang, die Sonne scheint, aber der Wind ist kalt, fast eisig, während M. mir ihre phantastische, stellenweise unfassbare Geschichte erzählt und ich alles mitschreibe, einfach alles. So verfahre ich immer bei meinen Recherchen, es wird nicht sortiert, nichts ausgelassen, obwohl ich schon weiß, dass ich später vielleicht nur sehr wenig vom Ganzen gebrauchen kann, doch dieses Wenige ist Goldstaub, unverzichtbar, und der Goldstaub beginnt erst zu glänzen, wenn ich das Gespräch ins Reine geschrieben, aus dem Gedächtnis ergänzt und das Beiläufige unserer Begegnung hinzuerzählt habe.

Die Prosa des Alltags: Ein einigermaßen geordneter Ablauf hilft, den Kopf über Wasser zu halten. Weshalb es sehr schön und wichtig für mich ist, auch an Recherchetagen noch vor Sonnenuntergang wieder zurück in Wilhelmshorst zu sein. Dann schaffe ich es, meinen Waldgang zu machen und das Abendlicht in den Kiefern zu sehen, erst das Gelb (dunkles Gelb wie von Bonnard), dann kupferfarben und am Ende blutrot in den Spitzen. Mein Weg durch den Wald führt immer an einer bestimmten Stelle vorbei, ich nenne sie die Kiefernversammlung. Die Bäume dieser Versammlung sind uralt und tragen eine Rinde, die an die Haut vorsintflutlicher Reptilien erinnert. Ich stelle mich dort auf, in ihrer Mitte, ich stehe so da, sehr still, und schau nach oben in die sagenhaften Asymmetrien ihres mächtigen, leuchtenden Astwerks, und irgendwann beginnt das Rauschen – die Versammlung spricht. Und dann, irgendwann (nicht ohne mich zuvor umgeschaut zu haben), beginne ich ein wenig mitzureden.

Was hier vielleicht noch gesagt werden sollte: Gespräche unter Bäumen sind kein Symptom der neuen, infektionsbedingten Einsamkeit – die uralten Kiefern fordern schon immer dazu heraus. Und das Schreiben ist eine Zeit, in der ich ohnehin viel und eigentlich immerzu sprechen muss. Ich rede und probiere mit Worten Klangfolgen aus, musikalische Muster für Sätze oder Verse, je nach dem, woran gerade gearbeitet wird. Vier Kieferngedichte sind auf diese Weise schon entstanden in diesen Tagen, und so wächst ein Manuskript – langsam, aber sicher, wie Herr Klotz, unser Lehrer für Astronomie immer gesagt hat in seinen Vorträgen über das Weltall: langsam, aber sicher.

Was gibt es sonst noch zu tun? Keine geringe Herausforderung ist das Laub, wie in jedem Jahr. Das hätte längst erledigt werden müssen. Jetzt ist es nass und schon halb verfault. Im Geräusch der Harke (die vom Hersteller »Landschaftsbesen« genannt wird) ziehen mir die Bilder meiner kurzen »Stern 111«-Lesereise durch den Kopf. Vom Frühjahr komplett in den Herbst verschoben, war sie sehr schnell wieder vorbei gewesen. Umso dankbarer denke ich jetzt an die Künstler-Käseplatte im Panoramazimmer der Bibliothek von Bielefeld, an den Bahnhof Schleswig am Morgen mit seinem verwilderten Rangierbahnhof, an den Abend zu Füßen der Dresdner Frauenkirche und auch an einen Auftritt auf Hiddensee, unter freiem Himmel, im strömenden Regen – am Ende war einfach alles durchnässt: das Buch, die Gäste, der Autor und die Technik zwischen den Sanddornbüschen, die Funken zu schlagen begann, aber niemand wollte gehen. Mehrmals hatte ich einen Abbruch vorgeschlagen und mir nur immer wieder ein »Weiter, weiter!« eingehandelt …

Und ja: Weiter, weiter – Bibliotheken, Literaturhäuser, Buchhändler, alle hatten sich darum bemüht, und mehr als das, ein leidenschaftlicher Aufwand, der allein mit einer unbedingten Liebe zur Literatur begründet werden kann, wurde betrieben, Laufwege, Abstände, Belüftungssysteme und Kohlendioxidmessgeräte eingerichtet, am Ende das Signieren hinter Bühnenbarrikaden oder riesigen Klarsichtscheiben mit einem Loch für das Buch, manchmal zu schmal, so dass man spontan helfen wollte und es beinah (oder tatsächlich) zur Berührung kam – ein kleiner Schreck auf beiden Seiten: Der andere könnte dein Tod sein, denken wir jetzt so?

Am Abend telefoniere ich mit meinem Sohn, der Musiker ist. Seit fast einem Jahr hat seine Band (footprint project) keine Auftritte mehr, von einigen Online-Solidaritäts-Konzerten abgesehen. Er erklärt mir, wie wichtig diese Zeit für ihn sei, vor allem zum Schreiben, zur Selbstbesinnung und für die Arbeit im Studio. Außerdem plane er die Gründung einer eigenen Band. »Jetzt?«, frage ich. »Jetzt ist dafür der beste Moment.«

Dieser Text erschien, in einer leicht veränderten Version, zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 12.11.2020.


Bild links:
Küstenbunker bei Furuboda

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