Im Keller

Im Keller

Um mich ein wenig zu freuen auf das, was folgt, setze ich mich in mein Archiv und träume. Eigentlich ist das der Heizungskeller, früher gab es hier nur Kohle, Koks und einen Nationalkessel, das gusseiserne Herz unserer Schwerkraftheizung. »Sie schütten aus schmutzigen Körben / die schwarze kantige Trauer der Erde in meinen Keller«, hat der Dichter Peter Huchel geschrieben, dessen Keller das früher einmal war. Inzwischen gibt es hier eine Gasheizung von Buderus, die Therme ist nicht größer als ein kleiner blanker Wandschrank mit einem winzigen Fenster, in dem verschiedene Zahlen und Figuren blinken.

Der Raum ist nicht groß und sehr niedrig. Erst vor etwa einem Jahr habe ich begonnen, ihn mein Archiv zu nennen. Rundum stehen ein paar in ihrer Konstruktion ziemlich gewagte Regale voller Ordner und Ablagen. Dazwischen auch einige andere Dinge, die in der Welt oben (im normalen Leben) ihren Platz verloren und hier unten (gewissermaßen) ihr Exil gefunden haben: eine uralte Mercedes-Schreibmaschine zum Beispiel und meine alte Sony-Stereoanlage – das Kassettendeck ist eigentlich noch gut, und wie sonst könnte ich meinen Kassetten aus den Achtzigern lauschen, wenn mir jemals wieder danach wäre?

Die Ecke über dem Plastikcontainer mit meiner Straßenkarten-Sammlung (Shell-Atlanten, Stadtpläne, Routenvorschläge des ADAC aus der Nachwendezeit) ist für Fundsachen reserviert. Dort hängt auch Melvin Laskys Mantel, den er vor 22 Jahren an der Garderobe vergessen hat, nach einer Lesung hier im Haus. Wir hatten den über achtzigjährigen Lasky direkt vor seiner Haustür in der Berliner Mommsenstraße abgeholt und später auch dorthin zurückgefahren, dabei war der Mantel liegengeblieben, ein leichter Sommermantel, taubenblau. Marko Martin hat über Lasky geschrieben und damals auch das Gespräch mit ihm geführt – über Laskys Zeit als amerikanischer Kulturoffizier in Berlin und Herausgeber der Zeitschrift Der Monat, in der Hannah Ahrendt und George Orwell publizierten. 2004 ist der in New York geborene Lasky in Berlin gestorben, aber aus irgendeinem Grund hab ich es bis heute nicht fertiggebracht, den Mantel abzuhängen – etwas hindert mich. Nicht, dass ich denken würde, Melvin Jonah Lasky könnte sich doch noch einmal melden oder wäre erst dann wirklich tot, wenn ich den Mantel wegnähme (tatsächlich sieht es im Halbdunkel dieser Kellerecke immer ein wenig so aus, als stünde er da und blicke mich an von der Seite, prüfend natürlich) – nein, ich glaube, es hat eher mit dem Charakter dieses Raums unter der Erde zu tun. Der Mantel hat hier seinen Platz gefunden, und inzwischen wäre es einfach unmöglich, etwas daran zu ändern.

Natürlich gibt es hier unten auch Bücher. Halblinks vor mir, beleuchtet von einer wackligen Schreibtischlampe, liegt das Regal mit den Beleg-Exemplaren von Nachdichtungen und Übersetzungen. Das Cover der chinesischen Ausgabe von Kruso zeigt eine blaue, mit Tusche gezeichnete Welle, die ohne Ende steigt und fällt. Das Buch ist so positioniert, dass ich es immer sehen kann von meinem Kellersitzplatz aus – den ich noch gar nicht beschrieben habe: ein Stuhl aus Holz mit runder Lehne, daneben ein kleiner quadratischer Ikea-Stubentisch voll mit vergilbten Zeitungsauschnitten, Zettelzeug, uralten Notizen usw.

Ab und zu findet sich das Wort »Kellerfreizeit« auf meinen Merk- und Planungslisten. Es bedeutet, dass ich mir vorgenommen habe, mehr Zeit im Keller zu verbringen. Mein Vorwand: Endlich einmal Ordnung in die Regale zu bringen. In Wirklichkeit meint »Kellerfreizeit« jene Sehnsucht, vollkommen abgeschieden, beschützt und beruhigt zu sein, umgeben von Dingen, die mir, den Zeitläuften entführt, eine Illusion von Fortdauer geben, jenseits der oberen Welt.

Ja, ich glaube, hier unten ist tatsächlich mein Lieblingsplatz. Mir zu Füßen steht eine Kiste mit originalverpackten Restexemplaren meines ersten Gedichtbands (»berührt/geführt«, Oberbaum-Verlag, Chemnitz 1995), die ich dort aufbewahre, als Kapitalanlage. Bei Amazon und Ebay war der Preis für das Buch zuletzt auf sechzig Euro gestiegen – inzwischen, das habe ich gerade recherchiert, ist es nirgendwo mehr lieferbar. Das ist sehr gut. Gedichte entwickeln sich besser als Aktien – oder Gold (was wir schon immer wussten). Neulich habe ich zwei Holzleisten unter die Kiste geschoben, damit sie vom Kellerboden her keine Feuchtigkeit zieht – Feuchte wäre schlecht für diese Kostbarkeiten.

Auf der Kiste mit »berührt/geführt« (eine Wendung aus der Welt des Schachspiels) steht meine dunkelblaue Badmintontasche. Früher, als wir noch Fußball gespielt haben, war das meine Fußballtasche. Vor gut zehn Jahren mussten wir die Sportart wechseln – zu viele Verletzungen. Seitdem spielen wir Federball übers Netz, jede Woche vier bis sechs Freunde, je nach Anwesenheit.

Wenn ich im Land bin, gibt es keinen schöneren Termin: Anspannung und Vorfreude bereits am Nachmittag (wie in der Kindheit vor dem Training), gefolgt vom Ritual des Packens der Tasche, wenn möglich, ganz in Ruhe. Im besten Fall werden ein paar Dinge schon am Vorabend zurechtgelegt – das Handtuch, das Duschbad, der richtige Schläger usw. Später die unverzichtbaren Ergänzungen: Wasser, Traubenzucker, Wechselstrümpfe (gern vergessen) und die Sportbrille mit den Sportbügeln – übrigens wissen nur noch sehr wenige Optiker in diesem Land etwas mit dem Wort »Sportbügel« anzufangen, aber das führt hier zu weit …

Am Abend: die Anfahrt zur Halle (dazu Musik, die Freitags-vor-dem-Spiel-CD, die in der Konsole zwischen den Vordersitzen bereitliegt), dann die Kabine, das Umziehen, die Spiele – und danach: »Gemütlich.« Wer verletzt ist oder es nicht anders schafft, kommt nur zu »Gemütlich«. »Gemütlich« ist das Code-Wort. »Komme nur zu Gemütlich«, das heißt: nur zu Essen & Trinken nach dem Spiel.

Neben mir, auf dem Ikea-Stubentisch steht ein Würfel aus dem Spielzeug meiner Tochter, in dem ein paar Stifte stecken. Meine Tochter ist schon lange erwachsen. Über Weihnachten und Silvester hat sie als Ärztin auf der überfüllten Intensivstation eines Potsdamer Krankenhauses gearbeitet. In jeder ihrer Schichten sind Menschen gestorben. Sie hat Totenscheine ausgefüllt und Angehörige angerufen. Menschen, die noch am frühen Nachmittag kaum Beschwerden hatten, waren am Abend nicht mehr am Leben. Sie sagt, sie hätte das nicht für möglich gehalten – plötzlich und so verzweifelt-unausweichlich mit dieser Seite ihres Berufs konfrontiert zu werden, »beinah wie im Krieg« sei das gewesen, »von so viel Tod umgeben«.

Furchtbar, doch auch ernüchternd war diese Zeit. Eine Lehrstunde auch über den Stellenwert dessen, was Kultur genannt wird in dieser Gesellschaft. Eigentlich noch immer unfassbar: die fehlende Wertschätzung, die sich in den Verlautbarungen der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker zeigte (von Ausnahmen abgesehen) – monatelang spielten Theater, Kinos, Musik und Literatur dort nicht die geringste Rolle, zwischenzeitlich rangierten Kunst und Kultur auf einer Ebene mit Nagelstudios und Bordellen (nichts gegen Nagelstudios und Bordelle). Woher dieses Unvermögen? Und wäre es darum nicht zuallererst gegangen: Wertschätzung auszudrücken, eine Sprache dafür zu finden. Ich versuche, mir das vorzustellen. Keine Ahnung, wie es läuft, aber all die Redenschreiberinnen und Redenschreiber zum Beispiel, die Referentinnen und Referenten in den Ministerien – fällt denen nichts auf, wenn sie mitten in der Krise nachts zusammensitzen und die Statements ihrer Politikerinnen und Politiker besprechen?

Sehr leise, im Keller nebenan, das Klicken der Gasuhr. Sofort fällt mir jene Geschichte von Donald Barthelme wieder ein, in der Gott im Overall erscheint und in den Keller steigt, um am Zähler unter der Treppe den aktuellen Stand der Gnade abzulesen. Meine Buderus-Therme rauscht ihr sanftes Meeresrauschen, was gut passt zur blauen Welle auf dem chinesischen Buch und irgendwie auch zu Laskys Mantel.

Was folgt? Ich zieh die Badmintontasche auf meinen Schoß und kontrolliere den Inhalt. Gewissermaßen ist sie das geheime Zentrum meiner Hoffnung auf jene Zeit danach, von der wir nur vermuten können, wie sie aussehen wird. Nach alldem im Grunde unglaublich, dass wir seit Anfang Juni wieder spielen.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juni 2021.

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