Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Clare Torry gewidmet

Es war schon Nacht, wenn mich der Bannstrahl traf. Verstanden habe ich nichts – nur gehört. Hören, hören und hören, im finsteren Kinderzimmer, auf der sogenannten Jugendliege, einer Ausziehcouch, die einige Tage zuvor das Klappbett meiner Kindheit abgelöst hatte. Ich hörte eine Frau, die wisperte und schrie, das war Gesang, ohne Text und erschütternd, Titel: »The Great Gig In The Sky«. Nach ihr kam das Stück über Geld, das metallisch auf mich eindrang, und immer wieder dieses entsetzliche Gelächter, Flugzeugmotoren, Schritte, jemand floh, vielleicht im Krieg und vielleicht war das ein Tiefflieger, knapp über seinem Schädel, gleich werden sie schießen, dachte ich, ihm den Schädel rasieren, mit dem Flugzeug. Und es gab Stimmen, irgendwelche Leute, die einfach so daherredeten und unbegreifliche Sachen sagten, die wahrscheinlich Botschaften waren – an mich, der gebannt lag in dieser verstörenden Wolke aus Klang.

Betörend, ja, aber eigentlich war das nur mein »Minett«, mein Kassettenrecorder neben dem Bett, kostbarstes und wichtigstes Geschenk zur Jugendweihe. War das Stück über Geld zu Ende, musste ich vorspulen, dann die Kassette aus dem Recorder nehmen, umdrehen und wieder einlegen – nicht ohne das schmale Magnetband ein wenig zu lockern (nach dem Spulen klemmte die Kassette), wofür es zwei Methoden gab: Entweder die Kassette ein paar Mal sanft aber entschlossen gegen den Handballen zu schlagen oder, was vernünftiger war, das Band mit dem kleinen Finger im Laufwerk zwei drei Umdrehungen aufzuwickeln, vorsichtig.

Vorspulen mit dem abgespreizten kleinen Finger – im Grunde undurchführbar im Nebel meiner Trance, in der Finsternis meines Kinderzimmers (trotz sozialistischer Jugendweihe blieb es »das Kinderzimmer«), in dem es immer kühl, ja, regelrecht kalt war, wenn ich Pink Floyd gehört habe. Seltsam, aber so erinnere ich mich: Frösteln und Gänsehaut in jener kleinen emotionalen Atempause, die mir das Wenden der Kassette verschaffte, denn dann kam »Us and Them«, das Stück, bei dem ich weinen musste. Also auf »Play« drücken, hören, »Us and Them« hören und weinen. Jeder weiß, was geschehen kann, wenn Musik einen wesentlichen Punkt trifft in uns, der vorher ohne Ausdruck war. Aber vielleicht schon immer existierte, egal ob wir davon wussten oder nicht. Und manchmal bleibt es so, ein Leben lang. Etwas trifft den Punkt. Mehr ist dazu nicht zu sagen, mit Worten ist da nichts zu machen.

Als mir das zum ersten Mal geschah, war ich gerade vierzehn Jahre alt; die Musik auf meiner mit den sauberen Großbuchstaben THE DARK SIDE beschrifteten Kassette von ORWO aus dem VEB Chemiefaserwerk »Friedrich Engels« in Premnitz (60 min Spielzeit, jede Seite 30 min) war ein vielleicht vier, fünf oder sieben Mal überspielter Mitschnitt, wie ein Kassiber weitergegeben von Kassette zu Kassette. »Kannst du mir das überspielen?« zählte zu den zentralen Fragen meiner frühen Jugend, Freundschaften entschieden sich in diesem Moment, und oft war es noch etwas mehr: Der Akt des Kopierens konstituierte den Bund, man wurde Teil einer Verschwörung und zählte zu denen, die Bescheid wussten, jene, die vom Geheimnis wussten namens PINK FLOYD. Auch das Erscheinen von »The Dark Side Of The Moon« bei Amiga (ich besaß die Platte noch nicht, natürlich war sie sofort ausverkauft gewesen) änderte das nicht, im Gegenteil, es verstärkte den Geheimniszustand, denn was, so lautete die Frage, war mit all den anderen Platten, von denen wir nur ferne Witterung und ihre phantastischen Titel hatten – was war mit »Umma-Gumma«, mit »Atom Hearth Mother«, mit »A Saucerful Of Secrets« und was war mit Syd? Die ewige Frage nach Syd Barrett, dem ehemaligen Kopf der Band, wir wussten nicht viel, doch ER schien der Schlüssel zu sein, das »verrückte Gehirn« …

Mit Worten nichts zu machen, aber dieses verrauschte abgenutzte Etwas, das von »The Dark Side Of The Moon« auf meiner Kassette und also bei mir in der Nacht auf der Jugendliege ankam, genügte, mein Leben zu verändern – ich zögere kaum, es so zu sagen. Was ich gehört hatte, stellte etwas für alle Zeiten Gültiges dar, das insbesondere für mich (kein Widerspruch) geschrieben und gespielt worden war. Diese Musik enthielt den magischen Auftrag, mich endlich ernsthaft mit der Welt und ihren Problemen zu befassen. Zuerst hieß das, sich mit der Botschaft der dunklen Seite zu befassen und mit jener Band, welche die Botschaft überbrachte.

Um »The Dark Side« auf den Grund zu gehen, begann ich den Texten nachzuforschen, die auf der Amiga-Ausgabe nicht mitgeliefert worden waren, anders als beim Original von EMI, wo es alles gab, Texte, Poster, Aufkleber, Reliquien frei Haus. Vielleicht ist es nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass mein eigenes Schreiben mit dem Abschreiben der Verse von »Breathe«, »Time«, »Brain Damage« und »Eclipse« begann: Ich war vierzehn Jahre alt und hatte meine erste selbstgewählte Begegnung mit Poesie. »Eclipse« zum Beispiel war konkrete Poesie, seriell, additiv und eigentlich endlos, aber mit einem Postscriptum: »There is no dark side oft the moon, really. As a matter of fact it´s all dark.« (»Eigentlich gibt es keine dunkle Seite des Mondes. In Wirklichkeit ist alles dunkel dort.«) Erst Überwältigung, dann Nihilismus. Eigentlich nicht fair. Atemberaubend: Das Auftauchen gesprochener Sprache in Stücken wie »Money« oder »Us And Them«. Von Literatur und Kunst wusste ich fast nichts. Im Haus meiner Eltern gab es keine Bücher, abgesehen von »Meyers Lexikon« in neun Bänden plus Ergänzungsband und zwei kleinen Enzyklopädien, eine zur Geschichte (brauner Einband) und eine zur Natur (blauer Einband). Außerdem jenes geheimnisumwitterte, in graues Leinen gebundene Buch mit dem Titel »Die Frau«, das meiner Mutter gehörte. Es war im Nachtschrank meiner Mutter versteckt, unteres Schubfach, oben lagen Taschentücher.

In jener sich über Stunden hinziehenden Abschreibarbeit aller Texte des Albums, wechselte ich von der Schreibschrift, wie sie uns in der Schule beigebracht und zur Regel erhoben worden war, in eine eigene Schrift – eine Art geschriebene Druckschrift, zuerst noch ganz steif, ungelenk, mühevoll, aber es musste so sein: Für den heiligen Akt dieser Andacht mit »Dark Side« entstand meine Handschrift, die sich seitdem kaum verändert hat. Das erste Mal in meinem Leben saß ich freiwillig lange am Schreibtisch, der im rechten Winkel aus der Schrankwand ragte: Mein sogenanntes ,Rock-Album‘ entstand. Ein blassgrüner Schnellhefter voller eng beschriebener Blätter. Ein Akt der Emanzipation, den meine Eltern mit Sorge und sanfter Missbilligung verfolgten: Wozu um alles in der Welt sollte das gut sein? Könnte man nicht auch etwas Sinnvolles machen – in dieser Zeit? Ich sehe meine Mutter in der Tür und wie sie langsam herantritt und auf mein Schreiben blickt: »Was machst du da, eigentlich?« Keine Antwort.

Eine kleine Nebenschwierigkeit war, dass ich kein Englisch konnte. Das Fach wurde erst ab Klasse 8 angeboten, »fakultativ«, also irgendwann am Nachmittag, wenn alle eigentlich nach Hause wollten. Russisch hingegen war »obligatorisch« und wurde an sechs Stunden in der Woche unterrichtet, von Klasse 5 an über das Abitur bis ins erste Studienjahr. Hätten Roger Waters und David Gilmour russisch gesungen, wäre es leichter gewesen, jedenfalls für den Jungen, der ich war im Jahre 1976.

Mit Worten nichts zu machen, trotzdem ein Versuch: Was »The Dark Side Of The Moon« damals bedeutete – eigentlich alles. Die Entdeckung einer existentiellen Verlorenheit und zwar als Rausch- und Glücksgefühl, eine Verlorenheitslust, ausgelöst von der Entdeckung, ein eigener Mensch zu sein. Das Erlebnis des Eigenen, eines eigenen Daseins, einer eigenen Traurigkeit, die zu feiern mehr als genug Anlass war: Abschied von der Kindheit, Abschied von den Eltern. Verlorenheitslust und süße Verzweiflung, weil sie den Besitz eines eigenen Schicksals beglaubigte und Quellgrund einer großen, alles umfassenden Sehnsucht sein konnte, die sich von allerhand gesellschaftlichen Schranken und Vereinnahmungsprogrammen umstellt sah.

Kurz gesagt: »The Dark Side« war groß. Und unsere erste Schuldisco fand in der Turnhalle statt, ein Raum voller Echos. Sensationeller Weise wurde irgendwann sogar getanzt – ich glaube, damit hatte keiner wirklich gerechnet, etwas schien im Gang. Auch die beiden DJs tanzten, und das war die Gelegenheit. Ich schlich hinters Pult, das direkt vor den vier Kletterstangen aufgebaut war, welches die DJs aus der Klasse 8c als Halterung für zwei medizinische Rotlichtlampen benutzten (100 Watt), und legte »Dark Side« ein. Ich hatte alles vorbereitet und meine Kassette auf den Anfang von »Time« gespult, das augenblicklich mit einer Kaskade von Alarmglocken und schrillendem Geläut in den Hallraum unserer Turnhalle einbrach und, wie vorgesehen, alles flutete. Es war eine Art Attentat, ein Anschlag, aber eigentlich, wie soll ich es sagen, gut gemeint. In jedem Fall ein großer Moment. Heute weiß ich nicht mehr so genau, was ich mir dabei im Einzelnen dachte; wahrscheinlich erfüllte ich einen Auftrag, die Mission der dunklen Seite, deren Scheitern nicht deutlicher hätte ausfallen können.

Seitdem galt ich als »speziell«. Unvergessen bis heute, wie feindlich und fremd die Turnhalle und all ihre Tänzer sich zeigten in diesem Moment. Ein Stich ins Herz: Auch die beiden Freunde aus unserer Pink-Floyd-Gemeinde standen mir nicht bei, im Gegenteil. Fünfzehn oder zwanzig Sekunden – irgendjemand schob mich zwischen die Kletterstangen – dann ging es mit Abba und Smokie weiter. Ohne Zweifel war das eine meine größten Niederlagen, gemeinsam mit Pink Floyd. Und eigentlich hätte ich auch gern getanzt.

Bis heute ist es die einmal von »The Dark Side Of The Moon« geformte Handschrift, auch in diesem Moment, in dem ich versuche, mich zu erinnern und darüber schreibe, in einen Ringblock, mit Bleistift. Sieben Jahre nach dem Turnhallen-Fiasko begann ich in dieser Schrift Gedichte zu schreiben. Sieben Jahre, in denen andere Dinge wichtig waren. Ich beschäftigte mich mit Mauerwerksbau, Baukonstruktionslehre und Statik und träumte von einem Studium der Architektur. Ich beschäftigte mich mit Motorrädern, frisierten Einzylinder-Motoren und den Details einer Halbverkleidung für meine rote TS 250/1 – ich wurde »ein Kunde«, wie man es damals sagte, mit Kutte (Parker), Matte (Langhaar) und Lungern vor dem Boxenturm bei Blueskonzerten, dort verlor ich das frühe Pink-Floyd-Gefühl. Dann Armeezeit, Grundwehrdienst, Pionierbaubataillon 12 in Merseburg (Tarnname »Herzblut«), wo, aus welchem Grund auch immer, das Lesen und Schreiben begann.

Während die Turnhalle der 8. Polytechnischen Oberschule »Bruno Kühn« in Gera-Langenberg nicht zu erobern gewesen war, okkupierte die Bildwelt von Pink Floyd meine frühen Gedichte und zwar in einem Maß, das mich eigentlich erschrecken müsste, aber so ist es nun einmal: »LEUCHTE DU VERRÜCKTER DIAMANT LEUCHTE / mach deinen Weg du kannst es nur weiter so / schaffen schon mit siebenunddreißig der erste / zu sein auf der abgewandten Seite des Mondes«, heißt es in den letzten Versen eines langen Gedichts, das ich für absolut gelungen hielt, damals.

ORWO-Kassette, Abschreibexzesse, Turnhallen-Disco – und schreibender Soldat. Das eigene Schreiben. Das zuerst ein Schreibenwollen war, ein euphorischer Wille zum Gedicht, was hieß: Anknüpfen an das Pink-Floyd-Gefühl der jungen Jahre und der Preis: Einströmen von Pathos ohne Ende. Aber vor allem war das ein Werkzeug, so jedenfalls sehe ich es heute: Sprengung der Kapsel, Lösung des Schreibkrampfs, Pathos als Überwältigungsmittel und Grenzüberschreiter – hinüber in eine Art Anfang.

Der Versuch, etwas Eigenes zu machen.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 3. März 2023.


Bild links:
Rock-Album, Gera 1977

Nächster Artikel