ÄTA BRA

ÄTA BRA

Ich habe keinen Stammtisch im »Redfellas«, aber ich versuche, immer so zu sitzen, dass ich während der Arbeit den Tisch der Alten im Auge behalten kann. Die Alten behalten mich auch im Auge. Für sie bin ich der seltsame Typ, der Ringblöcke und Notizbücher mitbringt und über den Tisch und die angrenzenden Stühle verteilt. Und ab und zu etwas schreibt. Einer, der etwas aufschreibt und immer nur Kaffee bestellt (»Kan jag få en kaffe, tack?«), manchmal auch eine Puddingbrezel (»Ett wienerbröd, tack!«).

Das »Redfellas« hat noch geöffnet, aber der Weg dorthin ist mir verwehrt in diesen Tagen (und Wochen), ich sitze in Deutschland fest. Ich habe meine Frau gebeten, mir Fotos vom geöffneten »Redfellas« zu schicken, zum Beweis – und auch zum Trost und zur Erinnerung. Ich habe sie gebeten, nicht den Tisch mit den Alten zu fotografieren, es ist besser, vorsichtig zu sein. Es genügt mir, zu wissen, dass sie noch da sind, auf der gepolsterten Rundbank mit der hohen Lehne, die sich um ihren Ecktisch zieht.

Ab vormittags zehn Uhr ordnet sich das Leben in Solna, einer autonomen Gemeinde im Stadtgebiet von Stockholm, rund um diesen Tisch, um dann seinen gewohnten Gang zu gehen. Das »Redfellas« liegt mitten in einer der riesigen Fluchten einer Einkaufs-Mall aus den siebziger Jahren, die »Solna Centrum« genannt wird. Leute kommen vorbei, denen die Alten etwas zurufen, manche werden (mit einem Pfiff) herbeizitiert, manche treten ungefragt heran, für kurze oder langwierige Gespräche, in denen es, dem Anschein nach (ich sehe die Anspannung in den Gesichtern der Alten), um schwerwiegende Dinge geht, Dinge, die (endlich) geregelt werden müssen. Es sind immer fünf bis sieben Alte am Tisch (oder mehr, auf Stühlen, die herangezogen werden), von denen zwei nie oder so gut wie nie etwas sagen, sie sitzen nur da, mit starren Gesichtern, die eigentlichen Chefs. Die beiden sehen sich sehr ähnlich, Brüder wahrscheinlich, Brüder und Paten zugleich – so habe ich oft gedacht und vor mich hin geträumt, statt zu schreiben.

Aber geschrieben habe ich auch. Früher hieß der Ort einfach »Äta Bra« (»Gut Essen«) und auf der Tafel mit dem Menü stand »Italiensk mat“. Auch im »Äta Bra«, das, warum auch immer, seit zwei Jahren »Redfellas« heißt (nötig wäre das nicht gewesen), waren die Alten schon da, am selben Ecktisch mit der durchgehenden Sitzbank. Am 8. Februar 2014 (sagt mein Notizbuch) habe ich im »Äta Bra« den letzten Satz meines Romans »Kruso« geschrieben. Damals, im Überschwang und gegen alle Regeln schwedischer Zurückhaltung (die zu befolgen mir nicht schwerfällt), hatte ich den Barmann gefragt, wo er herkommt, eigentlich. Seitdem sind wir ein wenig miteinander bekannt, und manchmal sprechen wir kurz. Er will dann wissen, worum es gerade geht in dem, was ich schreibe oder er erzählt etwas über Neapel, was ich mir später, wenn ich wieder zu Hause bin, notiere.

Wie wir darauf kamen, weiß ich nicht mehr, aber eines Tages erzählte mir Alberto (inzwischen kannte ich seinen Namen und vielleicht war die Mutter Maria auf dem Kühlschrank hinter dem Tresen unser Ausgangspunkt), dass es in den Straßen von Neapel überall kleine Vitrinen und Altäre mit den Figuren der Heiligen gäbe: Eine Aufforderung, möglichst viel zu beten, weil das Beten wie eine Leitplanke funktioniere und die Seelen damit aufgefangen würden und abgelenkt vom Sog der Hölle – weil man den Seelen der Toten damit helfe, leichter in den Himmel zu kommen, so oder so ähnlich erklärte es Alberto.

Was ich im »Redfellas« (früher »Äta Bra«) noch gelernt habe: Wozu man das kleine Gläschen Wasser benutzt, das zum Espresso serviert wird: Man spült den Mund damit aus, um dann den Geschmack des Kaffees (seine köstliche Bitternis) voll und ganz genießen zu können. »Wer das Wasser nach dem Kaffee trinkt …« Traurig schüttelte Alberto den Kopf.

Warum auch immer, aber Albertos trauriger Blick erinnerte mich an lange vergangene Stunden. Früher, wenn wir zu Hause in Gera vier gehäufte Teelöffel »Mocca Fix Gold« in eine unserer pottgroßen blauen Tasse gaben und sie mit kochendem Wasser übergossen, war das die übliche Methode, die man »kaffeetürkisch« nannte, ohne genauer zu wissen, warum und was daran türkisch sein sollte. Bald nach dem November 1989 (spätestens 1990) dann die Ahnung, dass ein guter türkischer Kaffee eventuell doch etwas anderes sein könnte. Aus dieser Verlegenheit wurde das Wort »DDR-türkisch« geboren und vor Kaffeegästen mit unbekannter (unter Umständen westlicher) Herkunft angewendet – gesprochen in einem eher entschuldigenden Tonfall und im Grunde beschämt von dieser ostdeutsch-türkischen Herkunft, aber auch mit dem wilden Lächeln des Barbaren, der schon weiß, wie fraglich seine Sitten und Gebräuche (praktisch über Nacht) geworden waren, sie aber trotzdem weiterhin anwenden möchte, von Fall zu Fall zumindest.

Dass mein Frühstückskaffee im Grunde bis heute »ddr-türkisch« genannt zu werden verdiente, hätte ich Alberto im »Redfellas« gern erzählt, wäre mein schwedisch (oder italienisch) besser gewesen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden (wie man so sagt). Zuerst müsste ich dafür wieder nach Schweden, nach Solna/Stockholm, wo mein Schreibort liegt, meine nordische Heimat! »Ach, Schweden, ruf ich, Schweden, alter Freund / In dir, da fühle ich mich wohl, / Bei Tanz, Gesang und Alkohol / Du bist so gar nicht eingezäunt«, singen die »Ärzte«. Hoffentlich ist es bald wieder so.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Mai 2020.

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